Der Contergan-Fall
Historiker aus Münster untersuchen ungeklärten Skandal
Münster/Düsseldorf -
Zwei Historiker aus Münster sind vom NRW-Gesundheitsministerium beauftragt worden, die Rolle des Landes im Contergan-Skandal aufzuklären. Zwischen 1957 und 1961 nahmen Tausende Frauen das berüchtigte Schlaf- und Beruhigungsmittel. Bis zu 5000 Kinder wurden dadurch im Mutterleib geschädigt. Bis heute halten sich Gerüchte, dass die NRW-Regierung und der Aachener Chemiekonzern Grünenthal, der das Präparat auf der Markt brachte, gekungelt haben.
Von Elmar RiesSamstag, 15.02.2014, 00:02 Uhr
Contergan . Das Wort steht für sich. Weil es bei jedem von uns Bilder hervorruft. Bilder von Menschen, deren Arme oder Beine verstümmelt sind. Contergan steht aber auch für einen der größten Arzneimittelskandale in der Geschichte der Bundesrepublik. E in Skandal, der noch immer nicht gänzlich aufgeklärt ist.
Das soll sich jetzt ändern. Das NRW-Gesundheitsministerium jedenfalls will die Rolle, die das Land damals gespielt hat, aufarbeiten las sen. Von dem Historiker Prof. Thomas Großbölting aus Münster und seinem Mitarbeiter Niklas Lenhard-Schramm.
Zwischen 1957 und 1961 nahmen Tausende Frauen gutgläubig das heute berüchtigte Schlaf- und Beruhigungsmittel des Stolberger Chemie-Konzerns Grünenthal . Der Contergan-Wirkstoff Thalidomid schädigte deutschlandweit rund 5000 Kinder im Mutterleib. Schät zungsweise 2400 der dadurch lebens lang Gezeichneten leben heute noch – als behin derte Mittfünfziger, ungefähr 800 von ihnen in NRW .
„Gibt es Dinge, die auch nach damaligem Recht nicht korrekt gelaufen sind?“ So hatte Ministerin Barbara Steffens den Auftrag umrissen. Allein die Frage nährt den Verdacht, dass auch auf staatlicher Seite nicht alles den Regeln entsprechend abgelaufen ist. „Es gibt im Kontext des Skandals auch dort Bereiche, die zu durchleuchten sich heute noch lohnt“, sagt Großbölting.
Der Interessenverband Contergan-Geschädigter NRW begrüßt den Schritt des NRW-Gesundheitsministeriums, die Rolle der damaligen Landesregierung im Contergan-Skandal untersuchen zu lassen. „Ich würde mir wünschen, dass mehr Licht ins Dunkel kommt“, sagte der Vorsitzende Udo Herterich auf Nachfrage. Vor allem während des Prozesses sollen staatliche Stellen seinerzeit Druck auf die Eltern ausgeübt haben, dem Vergleich zuzustimmen. Vor diesem Hintergrund wäre es „grundsätzlich schön, wenn sich das Land bei uns entschuldigt“.
Warum zum Beispiel wurde das Medikament erst so spät vom Markt genommen? Das rührt an die staatlichen Instanzen, weil das Land damals die Aufsicht über das Gesundheits- und Arzneimittelwesen innehatte. 1959 hatte Grünenthal von der schädigenden Wirkung erfahren. Erst nachdem Medien 1961 darüber berichteten, zog das Unternehmen die Reißleine.
Oder: Welche Rolle spielte der damalige NRW-Justizminister Josef Neuberger, des sen Anwaltssozietät – nur Zufall? – Grünenthal 1970 beim Conte rgan-Prozess vertrat?
Und: Was taten die damals zuständigen Ministerien Inneres und Justiz während des Prozesses? Der endete mit einem Vergleich. Der beschuldigte Konzern zahlte 100 Millionen D-Mark in eine Stiftung , im Gegenzug wurde das Verfahren eingestellt. Mit der unfassbar zynischen Begründung eines „mangelnden öffentlichen Interesses“.
Sicher ist, dass der Skandal ungeahnte Folgen hatte, weil er einen Mentalitätswandel beförderte. Erst durch ihn entwickelten sich die Gedanken von Verbraucherschutz und Patientensicherheit. Zugleich entstand der Prototyp einer kritischen Öffentlichkeit, die die bis dahin sakrosankten alten Autoritäten infrage stellte. „Damit leitete der Contergan-Fall eine große Wende in der politischen Kultur ein“, sagt Lenhard-Schramm.
Wie es davor gewesen war, lässt sich bisher nur erahnen. Seit Jahrzehnten kursieren Kumpanei-Gerüchte. Danach sollen Politik und Ministerialbürokratie Grünenthal aus ökonomischen Gründen gedeckt haben. Das Unternehmen galt als wichtig für de n Chemiestandort NRW.
Die nächsten Monate werden Großbölting und Lenhard-Schramm in die staatlichen Archive eintauchen. Das der Firma Grünenthal bleibt für sie übrigens verschlossen. Ein Fingerzeig?