Die große Lust am Mittelalter
Die Szene erfährt seit Jahren großen Zulauf / Teilnehmer suchen Entschleunigung
Männer in 25 Kilogramm schweren Ritterrüstungen, Tempelrittergewandung und schottischer Clankleidung strecken die Arme in die Luft, drohen mit grauen Schaumstoff-Knüppeln in Richtung einer Schar Kinder und brüllen. Ihr in Strumpfhosen und Tunika gekleideter Anführer Frank Misic alias Animatius ruft: „Das können wir auch.“ Gelächter auf der anderen Seite. Animatius bringt die Kinder dazu, sich umzudrehen und mit den Hintern zu wackeln. Die Erwachsenen tun es ihnen gleich. Der Schotte streckt ihnen sogar sein nacktes Hinterteil entgegen. Jetzt ist genug der Provokation. Die Kinderschlacht ist eröffnet, die Gegner fallen mit ihren Polsterwaffen übereinander her. Am Ende triumphieren die Kleinen über die Großen – wie es sich für ein mittelalterliches Schlossfest, das vor allem für Familien ausgerichtet ist, gehört.
Das Mittelalter fasziniert immer mehr Menschen, wie an einer wachsenden Zahl von Mittelaltermärkten, Ritterspielen, Burgfesten, Musikkonzerten, Fachzeitschriften, Romanen, Filmen, Rollen- und Computerspielen deutlich wird. „Die Mittelalterszene ist eine noch recht junge Bewegung“, erklärt Jan Keupp, Professor für Geschichte des Spät- und Hochmittelalters an der Universität Münster. Seit etwa 20 Jahren erfährt die Subkultur, die als eingeschworene Gemeinde begann, immer mehr Zulauf und differenziert sich zunehmend aus: Zwischen authentischer Wiederbelebung geschichtlicher Fakten, im Fachjargon auch Reenactment genannt, und der Darstellung von Fantasy-Figuren wie aus „Herr der Ringe“ gibt es für jeden etwas. „Das Mittelalter ist eine Spielwiese geworden“, so der Fachmann.
So sind auch auf dem mittelalterlichen Schlossfest in Senden die Darstellungen nur zur Hälfte originalgetreu. Der Spanferkelspieß dreht sich elektrisch, die Gäste speisen auf Bierbänken und das Bier fließt aus modernen Zapfanlagen statt direkt aus dem Fass. Zwischendrin modern gekleidete Besucher mit Digitalkameras und Handys, die sich aus der Hand lesen lassen, im Bogenschießen versuchen und bei der Jagdvogeldressur zuschauen. Auch Ralph Damke und seine Lebensgefährtin Ulrike Bitterlich-Nietsch, die mit ihrer Firma Ars Westfalica seit 2010 Mittelaltermärkte wie den in Senden veranstalten, verkaufen wenig mittelalterlichen Jonglierbedarf. „Ganz ohne Kommerz kommen die professionellen Händler nicht aus“, räumt Damke ein, der im richtigen Leben Reiseverkehrskaufmann ist.
Schließlich koste das Hobby viel Geld: Die Reisen zu den zahlreichen Szenetreffen in den Sommermonaten, die originalgetreuen Zelte und Holzmöbel, die sie dort aufbauen, die aufwendigen, häufig selbst genähten Kleider aus Leinen, Wolle oder Leder – all das ist teuer und zeitintensiv.
Doch es lohnt sich. „Mit dem Überstreifen der Kleider fällt der Alltag ab“, sagt Steffie Kürsten. Sie, ihr Mann Frank sowie Tochter Yara stellen auf dem Schlossfest Senden die Familie eines Jagdvogts nach, der so auch in ihrer Heimatstadt Mülheim an der Ruhr um 1248 gelebt haben könnte. Die Assistentin im blau-beigen Leinenkleid und hellen Kopftuch und der Caravanverkäufer in rotem Wollgewand mit Hütchen, wendegenähten Lederschuhen und Beinlingen bleiben mit ihrer Darstellung so nah an historischen Fakten, die sie bei jeder Gelegenheit in Museen und Büchern sammeln, dass sie sogar in Schulen eingeladen werden. „Das Mittelalter war nicht dunkel und dreckig, sondern bunt“, begeistert sich die 42-Jährige für die legendenbehaftete Epoche zwischen 500 und 1500.
Eine Zeit, die weder finster noch märchenhaft war, sondern wie alle Zeitalter einer Eigenlogik folgte – einer aus heutiger Sicht offenbar sehr faszinierenden.
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