Kommentar
Neue Zugänge zum Holocaust-Gedenken
Münster
Spielzeugküchen, Bücher, Chanukka-Leuchter: Die Gedenkkultur sucht seit Jahren nach neuen Wegen abseits abstrakter Lerneinheiten. In den Blickpunkt geraten beim Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr Alltagsgegenstände jüdischer Familien.
Was passiert, wenn es die Stimmen der Zeitzeugen und Holocaust-Überlebenden nicht mehr gibt? Die Gedenkkultur sucht seit Jahren nach neuen Wegen abseits abstrakter Lerneinheiten. In den Blickpunkt geraten beim Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr Alltagsgegenstände jüdischer Familien.
Sie machen die Flucht, die Ermordung und das Leid ebenso wie das vielschichtige jüdische Leben in Deutschland greifbar. Sie sind stumme Zeugen, die gleichwohl die Geschichte lebendig halten. Die Spielzeugküche von zwei Mädchen, die nach der Inhaftierung ihrer Eltern allein blieben, ein Klavier, das mit einer ausgewiesenen Familie in Haifa landete – all das berührt unsere Vorstellungswelt und schafft eine gefühlsmäßige Brücke bis in den heutigen Alltag.
Würdelos verramscht
Immer noch stehen heute Gegenstände von deportierten jüdischen Familien in deutschen Häusern. In letzter Sekunde wurden sie Nahestehenden übergeben – einige wurden auch würdelos aus leerstehenden Wohnungen verramscht.
Wohl deshalb ist der Umgang mit diesen Zeugnissen der Zeit für viele schwierig. Sie werfen unangenehme Fragen auf und können als bleibender Stachel in den deutschen Familiengeschichten bohren, sie können aber auch bei einem ehrlichen Umgang versöhnen.
Ankerpunkt im Meer der unerzählten Geschichten
Oft kann man nicht mehr herausfinden, wer und was für eine Geschichte eigentlich hinter ihren Besitzern steckt. Zehntausende Objekte wurden der Gedenkstätte Yad Vaschem übergeben, Millionen Dokumente sind dort zusammengetragen worden – ein „Schrein der Erinnerung“, wie Yad-Vashem-Vorsitzender Dani Dayan anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Sechzehn Objekte – siebzig Jahre Yad Vashem“ gerade in Berlin formuliert hat. Die israelische Gedenkstätte ist inzwischen zentraler Ankerpunkt im Meer der bislang unerzählten Familiengeschichten, die oftmals in Auschwitz oder anderen Konzentrationslagern ihr trauriges Ende fanden. Der Bundestag hat sich nun für die aktuelle Ausstellung einige dieser Gegenstände wieder ins Herz Deutschlands geholt. Sie lösen durch dieses unerwartete neue Umfeld besonderen Respekt aus.
Nicht alle Gegenstände aus jüdischem Besitz werden dahin kommen können, wo sie hingehören. Doch die Suche und die Identifikation mit ihrer Geschichte sind mehr als eine moralische Pflicht. Sie lösen vielschichtige Lernprozesse aus. Und in jedem Fall zeigen sie das bewusste Ringen um Sichtbarkeit und die Ausdruckskraft bislang unerzählten Leids.
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