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Der Türmer geht in Rente

300 Stufen in vier Minuten

Münster

Den Ausblick auf Münster genießt Wolfram Schulze auch nach über 20 Jahren noch. Doch jetzt muss er sich langsam davon trennen, denn seine Zeit als Türmer von St. Lamberti läuft Ende des Jahres aus. Dann steigt zum ersten Mal eine Türmerin auf den Turm und wacht über Münster.

Gabriele Hillmoth

Abschied vom Turm: Wolfram Schulze geht Ende des Jahres als Türmer in den Ruhestand. Foto: Matthias Ahlke

Jede halbe Stunde tutet Münsters Türmer in alle vier Himmelsrichtungen. Zwischen 21 Uhr und Mitternacht wandelt Wolfram Schulze in 75 Metern Höhe auf einer Balustrade rund um den Kirchturm von St. Lamberti. Ab und zu gibt es dafür Beifall von Passanten. Zugabe, rufen sie. Ganz Münster liegt dem Türmer allabendlich zu Füßen. Wolfram Schulze genießt den Ausblick. Jetzt in der Weihnachtszeit legt sich ein heller Glanz über die Stadt, ab Januar muss der 70-Jährige auf die Aussicht verzichten. Am 31. Dezember ist sein letzter Arbeitstag.

Noch geht Wolfram Schulze aber seinem Job nach. Die kleine braune Holztür am Fuße des Kirchturms ist eher unscheinbar, durch die er seit 20 Jahren Abend für Abend bis auf dienstags um kurz vor 21 Uhr verschwindet. Vor ihm liegen 300 Treppenstufen. Schulze zählt die beiden Stufen vor der Tür mit. In dreieinhalb Minuten flitzte er früher hinauf bis zu seinem Zimmer, heute kalkuliert der 70-Jährige vier Minuten Gehzeit nach oben ein. Das hält ihn rank und schlank. Bänke auf einer Empore gab es nicht immer. Schulzes Gäste verschnaufen. Der Türmer selbst redet – über seinen Turm, seinen Job und darüber, was sich in seinem Leben so im Laufe der Jahre verändert hat.

„Jetzt kann ich nicht aufhören zu reden“, sagt er und macht seinem Herzen Luft. Sein Vorgänger wachte 33 Jahre von 22 Uhr bis sechs Uhr morgens über Münster. Schulze war damals Aushilfstürmer, als die Stelle neu ausgeschrieben wurde.

Zu der Zeit, erinnert er sich, regnete es dort oben in der Türmerstube noch durch. Wolfram Schulze, der gelernte Buchbinder, der in Münster Philosophie, Geschichte und Volkskunde studiert hat, schleppte als Erstes einen alten Wecker seiner Mutter nach oben, viele Bücher, Stühle, ein Tischchen und ein altes Radio. Den Fernseher hat er wieder mitgenommen. Immer, wenn es spannend wurde, musste er tuten. Außerdem: „Horrorfilme waren mir da oben so alleine auch nicht geheuer.“ Das Sofa im Turmzimmer ließ Vorgänger Roland Mehring von Möbel Althoff kommen. Lieferung frei Haus war damals vereinbart.

Seit 1379 auf Lamberti

298 Stufen hoch in 75 Metern befindet sich der Arbeitsplatz des Türmers von St. Lamberti in Münster. Wolfram Schulze kommt mit zwei Außenstufen vor der Turmtür sogar auf 300 Stufen. Im Jahr 1379 wird der Türmer von St. Lamberti in einer Urkunde erstmals erwähnt. Damit hat Münster nach eigenen Angaben der Stadt den dienstältesten Türmer in Europa. Seine Aufgabe bestand immer darin, Brände oder Feinde zu melden.

Damit ihm warm wird, schmeißt Wolfram Schulze zwei elektrische Heizungen an, wenn er zum Dienst kommt. 14 Grad zeigt das Thermometer an diesem Dezemberabend. „Das reicht mir“, meint Schulze. Zwei Lichterketten strahlen etwas Wärme aus.

Der Türmer freut sich auf seinen Dienst am Sonntag und Montag, dann ist es in der Stadt besonders ruhig, sagt er. Wolfram Schulze bekommt da oben in 75 Metern Höhe alle Events mit. Ob Stadtfest, Fußball-WM oder Schauraum – der Türmer behält den Überblick. Und er versucht, sein „Fliegen“-Gewicht von 62 Kilogramm zu halten, damit der Aufstieg für ihn so leicht wie möglich bleibt.

Dass er manchmal mehrmals von oben nach unten saust, wenn er zwischen einer eineinhalbstündigen Staubsaugeraktion auf der Wendeltreppe tuten muss, stört ihn nicht. Dann flitzt Wolfram Schulze immer noch voller Elan hoch und runter.

Nur eine Frage muss er immer wieder beantworten, dass ist die nach einer Toilette? Die gibt es nicht, sagt Wolfram Schulze, verschwindet durch die Eisentür – und dann hört man ihn nur noch „Tuuuut“.

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