Auftritt in "Pension Schmidt"
Deniz Yücel berichtet über Haft in der Türkei - und trifft Briefschreiber
Münster
Der Andrang ist riesig: Gleich zwei Mal liest Deniz Yücel am Dienstagabend in der "Pension Schmidt" in Münster. Eine Lehrstunde über Demokratie, Rechtsstaat - und wie schnell beides verloren gehen kann. Und ein Abend mit einer ergreifenden Begegnung.
Ein Topf Minze steht auf dem Tisch, ein zweiter mit Petersilie. Passende Deko für diesen Leseabend. Das einzige Grün, das Deniz Yücel in seinen 290 Tagen Isolationshaft im türkischen Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9 zu sehen bekam. Ansonsten: Beton, Beton, Beton. Und die Erfahrung, die alle Menschen eint, die einmal in einer Zelle gesessen haben: „Die Angst, vergessen zu werden, zu verrotten.“ Selbst über dem Hof: ein Drahtzaun. „Dass die uns nicht einmal gegönnt haben, für zwei Sekunden in den blauen Himmel zu gucken . . .“
Kräuter gab es im Gefängnisladen. Und es gab die Briefe – Futter für die Gedanken. Der märchenhafteste kam aus dem Münsterland, wie der „Welt“-Journalist am Dienstag in Münster erzählt. Die Geschichte „von drei alten Männern und ihrer alten Mühle am Fuße des Teutoburger Waldes“, vom Rauschen des Baches, vom Rumpeln des Mühlrades, vom Geruch des Holzes, vom Kreischen der Säge . . . „Klaus, bist du da?“, fragt Yücel ins Publikum.
Klaus Helms ist da. Der Westerkappelner hat den Brief geschrieben, der Yücel die kleine Flucht aus der Isolation erlaubt hat. „Es gab da diesen Aufruf der ,Welt‘“, sagt der einstige Lehrer. Und da habe er eben über die alte Sägemühle bei Haus Marck in Tecklenburg geschrieben, die er und zwei Mitstreiter in Schuss halten.
Plötzlich Gegenstand der Berichterstattung
„Ich war nicht darauf aus, mich zum Posterboy der Pressefreiheit zu machen“, sagt Yücel. Er wollte nicht vom Berichterstatter zum Gegenstand der Berichterstattung werden. Aber ein Jahr wird er eingesperrt, „weil ich nichts anderes getan habe, als meine Arbeit“. Er wäre kein guter Korrespondent, wenn er nicht immer wieder sein eigenes Schicksal einordnen würde in die Analyse des politischen Geschehens.
Er erzählt vom Sommer 2016: „Der Putsch wird erfolgreich niedergeschlagen, aber am nächsten Tag war eine Junta an der Macht.“ Er berichtet von seiner Festnahme, der Polizeihaft, von dem #FreeDeniz-Protest der Unterstützer in Deutschland, von den ersten Auftrittsverboten für türkische Minister in Deutschland vor dem umstrittenen türkischen Verfassungsreferendum. „Das war die Reaktion, die man provozieren wollte“, sagt er.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan habe den „alten Trick“ genutzt: „Wenn man innenpolitisch etwas durchdrücken will, zettelt man außenpolitisch etwas an.“ Yücel ist das Werkzeug. Zugleich sei seine Haft das Mittel gewesen, nach der türkischen Presse auch die Korrespondenten aus dem Ausland zum Schweigen zu bringen.
Erdogan - "Gangster und Teppichhändler"
„Agentterrorist“ nennt Erdogan Yücel in einem TV-Interview. Und betont: „Solange ich im Amt bin, überstellen wir Deniz Yücel auf keinen Fall.“ Der Satz habe seine Frau, seinen Anwalt, seine Freunde verängstigt – ihn selbst nicht, sagt Yücel. „Das war ein Verhandlungsangebot“, sagt er. „Gangster und Teppichhändler verstehen diese Sprache.“ Was kann ich für Yücel bekommen?
Erdogans Regierung sei „ein Regime von Gangstern und Teppichhändlern.“ Das Interview sei der Moment gewesen, der seine Haft zu einer Geiselnahme gemacht habe. Sein Bestreben sei gewesen, den Preis für die Geiselnehmer möglichst weit in die Höhe zu treiben. Auch deshalb schreibt er in der Zelle, lässt die Texte nach draußen schmuggeln. Deshalb und aus Selbstbehauptung: „Ihr Arschlöcher kriegt mich nicht klein.“
Gefährdung der Interessen der Türkei
Das Land werde lange brauchen, sich von Erdogans Herrschaft zu erholen. „Dieses Land wird regiert von einer Mafiabande, die gewillt ist, alle Interessen der Türkei aufs Spiel zu setzen“, resümiert Yücel bitter. „Erdogan weiß: In dem Moment, in dem er seine Macht verliert, erwartet ihn kein ruhiger Lebensabend, sondern eine Zelle in Silivri Nr. 9.“
Yücel wird am 16. Februar 2018 freigelassen. Er begrüßt seine Frau Dilek vor dem Gefängnis – mit einem Strauß Petersilie.
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