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Verkehrserziehung für Flüchtlinge in Münster

„Erst mal die Balance halten“

Münster

Sie kommen, wie die Polizei sagt, aus anderen „Verkehrs-Kulturräumen“. Flüchtlinge im Verkehr, das war jetzt ein Thema für Experten aus 16 europäischen Ländern in der Hochschule der Polizei in Hiltrup.

wn

Heinz Albert Stumpen ist Dozent an der Hiltruper Hochschule der Polizei. Foto: DHP

Verkehrserziehung für Flüchtlinge – an der Deutschen Hochschule der Polizei ging es diese Woche multikulturell zu. 24 Polizisten aus 16 EU-Ländern diskutierten in einem Seminar, wie man sich auf Menschen aus fremden „Verkehrs-Kulturräumen“ einstellt. Unser Redakteur Günter Benning sprach mit Polizeidirektor Heinz Albert Stumpen vom Fachgebiet Verkehrswissenschaft und Verkehrspsychologie. Er war bis 2013 in der Leitung der münsterischen Verkehrsdirektion tätig.

Ich habe neulich einer jungen Irakerin das Radfahren beigebracht. Harte Arbeit. Ist das ein Thema für die Polizei?

Stumpen: Es ist tatsächlich so, dass viele Flüchtlingen das Fahrradfahren nicht gewohnt sind. Einige von ihnen sitzen bei uns zum ersten Mal auf dem Rad. Bevor wir uns über Verkehrsregeln unterhalten können, geht es oft erst mal darum, die Balance zu halten.

Der Münsteraner wächst mit Leezen auf. Da fällt es schwer, die Probleme von Flüchtlingen zu verstehen.

Stumpen: Ja, die tun sich schwer, beim Balancehalten oder beim „Radfahrerblinker“. Das muss man schon können. Die Polizei macht darum Fahrradtrainings. In Münster wird zum Beispiel in Vorbereitungsklassen für Flüchtlingskinder Fahrradfahren geübt.

Zumal das Rad fast zur Grundausstattung für Flüchtlinge gehört.

Stumpen: Ja, unsere „Willkommenskultur“ hat dazu geführt, dass viele Flüchtlinge gleich Fahrräder geschenkt bekommen haben. Aber manchmal sind sie zu groß, sie können nicht richtig darauf sitzen. Die Kinder sind die Ersten, die es auf die Reihe kriegen. Aber sie sind auch am meisten gefährdet.

Was tut die Polizei?

Stumpen: Eine ganze Menge. In Münster gibt es eine große Anzahl von Verkehrssicherheitstrainings speziell für Migranten. In 2015 haben die Kollegen 20 Seminare durchgeführt, 2016 waren es schon über 70. Die Verkehrssicherheitsberater haben in zwei Jahren über 2000 Teilnehmer erreicht.

Für Kinder gibt es die Polizei-Puppenbühne. Auch für Flüchtlingskinder?

Stumpen: Ja, die pädagogischen Konzepte setzen auf Texte. Die Verkehrspuppenbühnen hatten immer ein deutschsprachiges Kinderpublikum im Auge. Das ist jetzt anders. Wir haben deshalb die Dortmunder Puppenbühne eingeladen, die sich von den etwa 30 Puppenbühnen in NRW am meisten auf das Thema Mi­gration eingestellt hat. Die internationalen Teilnehmer unseres Seminars waren davon sehr beeindruckt.

Und sie haben das Puppenstück verstanden?

Stumpen: Absolut. Heute spielen wahrhaftige Menschen mit, zum Beispiel eine Polizistin, die zur Freundin der Hauptperson wird. Kasperl, Seppl und das Krokodil sind nicht mehr dabei. Aber das neue Konzept hat mich sehr berührt. Und damit werden die Kinder auch erreicht, sie erlernen neue Worte, trainieren das alte Spiel „Erst links, dann rechts“. Da gibt es Superideen.

Wie kann die Verkehrspolizei Flüchtlinge erreichen?

Stumpen: Als es 2015 mit den hohen Zahlen von Flüchtlingen losging, haben die Verkehrsdirektionen erkannt, dass ein Problem auf uns zukommt. Die machten schnell Flyer in verschiedenen Sprachen. Mittlerweile kümmert sich der deutsche Verkehrssicherheitsrat zen­tral darum. Der hat sogar einen Referenten für Mi­granten und Geflüchtete. Die Flyer sind in Englisch, Französisch und Arabisch, in Kürze auch in Persisch und Paschtu. Sie haben ebenso eine Sicherheits-App in diesen Sprachen gemacht, „The German Road Safety App“. Die ist interaktiv und unterhaltsam. Man muss ja wissen, die Leute kommen aus völlig anderen Verkehrs-Kulturkreisen.

Heißt „anderer Verkehrs-Kulturkreis“ mehr Chaos, weniger Regeln?

Stumpen: Ja, und die Kinder sind es gewohnt, dass die Straße Spielplatz ist. Das geht hier nicht. Der Verkehrssicherheitsrat hat einen syrischen Comedian engagiert, der auf Youtube lustige Videos über unsere Verkehrsregeln macht. Man sieht ein blaues Schild, unten Räder, oben Fußgänger. Und er erklärt, das heiße nicht, dass die Fußgänger auf Dächern gehen.

Wie sieht es eigentlich mit dem Autofahren aus?

Stumpen: Meist darf man erst mal ein halbes Jahr fahren, aber dann muss der Führerschein anerkannt werden. Das ist kompliziert. Auf der Liste der Länder, für die man den Führerschein umschreiben kann, stehen Irak und Syrien nicht. Die Leute müssen also einen neuen Führerschein machen. Das ist mit Sicherheit nicht einfach.

Wie wird sich die Situation entwickeln?

Stumpen: 2014 hatten wir 200 000 Asylanträge, in 2015 waren es 480 000, letztes Jahr 750 000. Wenn viele Flüchtlinge Asyl erhalten, werden wir in einiger Zeit Hunderttausende Menschen haben, die ihren Führerschein machen müssen.

Ist das nicht ein Riesengeschäft für Fahrschulen?

Stumpen: Absolut, ich glaube, da ist ein Markt für Leute, die der Sprachen der Migranten mächtig sind.

Wie ist es in anderen Ländern?

Stumpen: Manche, wie die Polen oder Ungarn meinten, sie hätten keine Flüchtlinge, also auch kein Pro­blem. Die Franzosen legten dramatische Zahlen vor. Vor Calais, wo der Tunnel nach England beginnt, kommen jährlich 50 Flüchtlinge ums Leben. Ansonsten gibt es nirgendwo belastbare Zahlen, auch in Deutschland nicht.

Weil bei Unfällen die Nationalität keine Rolle spielt?

Stumpen: Ja, es wird lediglich der Geburtsort erfasst, aber der sagt ja nichts darüber, wie lange die Menschen in Deutschland leben.

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