Kieferbehandlung
Das zweite Gesicht
Claudia Madej trägt ihr altes Ich immer bei sich, versteckt im Portemonnaie. Mit dem leicht zerknitterten Passfoto holt die 42-Jährige nicht nur die Vergangenheit hervor, sondern auch einen Berg an Erinnerungen und Emotionen, die sie heute noch zum Weinen bringen können.
Das Gesicht auf dem Foto und das der Frau, die es in den Händen hält, ähneln sich nur wenig. Man könnte meinen, es handele sich um zwei unterschiedliche Personen, vielleicht Schwestern, vielleicht Mutter und Tochter.
Angefangen hat alles mit Zahnschmerzen, da war Claudia Madej gerade 13 Jahre alt. Ihr behandelnder Zahnarzt röntgte ihren Kiefer damals mehrmals, bohrte die Zähne auf – den Ursprung der Schmerzen konnte er aber nicht festmachen. Parallel dazu wurde die untere Gesichtshälfte der jungen Frau immer dicker. „Das war schlimm. Gerade als junge Frau will man ja hübsch aussehen“, sagt Madej heute. Als die Schwellungen ihr Gesicht zunehmend verformten, habe sie sich immer nur gewünscht: „Ich will einfach nur normal aussehen.“ Dass sie mittlerweile nicht mehr andauernd den Drang verspürt, ihr Gesicht zu verstecken, war ein Kraftakt über Jahrzehnte – körperlich wie geistig.
Etliche Behandlungen – ohne Erfolg
Die Behandlungsmethoden, die Madej probiert hat, klingen in der Rückschau abenteuerlich. Die Medikamentenkette, die in ihren Kiefer eingesetzt wurde, um eine dort festgestellte Entzündung einzudämmen, war nur der Anfang. Als die keine Wirkung zeigte, versuchte es Madej mit einer sogenannten hyperbaren Sauerstofftherapie. Dabei wurde ihr unter Überdruck reiner Sauerstoff verabreicht, um die Heilungsprozesse im Körper zu beschleunigen. Auch hier: kein Erfolg. Genau so lautete das Fazit nach der Behandlung mit einem Calcitonin-Nasenspray, das unter anderem gegen Osteoporose eingesetzt wird, und Medikamenten aus der Chemotherapie. Egal, was Madej auch probierte: Die Schmerzen blieben, die Schwellungen im Gesicht auch.
Schon gewusst?
Seltenheit der Erkrankung erschwert Therapie
Ein Grund dafür, dass sich Madejs Leidensweg so lange hingezogen hat, liegt in der relativen Unbekanntheit und Seltenheit ihrer Erkrankung. Chronische nicht bakterielle Entzündungen würden oft nicht direkt erkannt, sagt Professor Johannes Kleinheinz. Der 60-Jährige leitet die Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Münster (UKM) und hat auch Madejs Fall betreut.
Wie andere seiner Kollegen ging auch Kleinheinz anfangs davon aus, dass die Entzündung einen bakteriellen Ursprung habe. Auf Basis dieser Diagnose wurden dann auch – wie sich später herausstellen sollte – die falschen Behandlungsmethoden gewählt. „Wir haben einige Fehler gemacht, viele Ansätze haben sich im Nachhinein als falsch herausgestellt“, sagt Kleinheinz. „Aber wir haben alles probiert, um ihr zu helfen.“
Das Warten hat ein Ende
Gewissheit, dass es sich um eine sogenannte nicht bakterielle Entzündung handelte, brachte somit erst das Ausschlussprinzip. Die Medikamentenkette, die Sauerstofftherapie, die Chemotherapie – all das hat zwar nicht gewirkt, dadurch konnte aber erst auf den eigentlichen Ursprung der Beschwerden geschlossen werden.
Erst mehrere Jahre nach der endgültigen Diagnose, mit 26, entschied sich Madej für eine Operation. Über die Halsfalte gelangte Kleinheinz von unten an ihren Kiefer und trug dort den überschüssigen Teil des Kiefers ab, der ihr Gesicht verformt hatte. Die durch die Wundfläche entstandene Schwellung brauchte etwa vier Wochen, um abzuheilen. „Ich war ungeduldig“, berichtet Madej rückblickend. „Ich hab‘ mich die ganze Zeit gefragt, ob es das nun war: Sehe ich nach all den Jahren endlich wieder ganz normal aus?“
Claudia Madej
Auf die Aufregung folgte Ernüchterung: Zwar wurden die Schmerzen im Kieferbereich besser, die Optik – da sind sich Madej und Kleinheinz heute einig – aber nicht. „Der Kiefer war über die Jahre derart deformiert, dass ein besseres Ergebnis beim ersten Eingriff kaum möglich war“, erklärt Kleinheinz. Früher zu operieren, sei keine Option gewesen: Zum einen könne man bei chronischen nicht bakteriellen Kieferentzündungen in der Regel davon ausgehen, dass sie sich zum Ende der Pubertät besseren – auch darauf haben Patientin und Arzt gewartet. „Mit einer verfrühten Operation hätten wir die Entzündung vielleicht zusätzlich aktiviert und alles noch schlimmer gemacht“, meint Kleinheinz. Zum anderen komme das generelle Risiko, das mit solch einem Eingriff verbunden ist, hinzu: „Es kann passieren, dass Gesichtsnerven geschädigt werden“, weiß der Mediziner. Die Folge: eine teilweise Lähmung des Gesichts.
Spuren bleiben trotz erfolgreicher OP
Zwei Jahre später, mit 28, folgte Madejs zweite Operation. Der Eingriff war der gleiche wie zuvor: Über die Halsfalte an den Kiefer, um dort überschüssigen Knochen abzutragen. Und auch das Ergebnis war ähnlich: Gut, aber nicht vollends zufriedenstellend. „Vielleicht waren die Erwartungen auch zu hoch“, sagt Madej heute. „Auch wenn es nicht perfekt war, hat danach keiner mehr gesagt: Du hast da irgendwas Komisches im Gesicht. Das war schon eine große Erleichterung.“ Mittlerweile habe sie sich aber mit dem Resultat der Operationen arrangiert: „Auch wenn es nicht ganz perfekt ist, habe ich dennoch ein unglaubliches Maß an Lebensqualität zurückerhalten.“
Madej konnte zwar immer auf die Unterstützung von Freunden und Familie zählen – gefehlt hat ihr aber der Austausch mit anderen Betroffenen. „Es ist etwas anderes, ob man mit einer Freundin darüber spricht, oder einer Person, die das Gleiche fühlt und denkt.“ Wieder zeige sich hier das Problem der Unbekanntheit und Seltenheit der Krankheit, so Kleinheinz. „Es gibt zu wenig Betroffene oder zumindest Diagnostizierte, um überhaupt einen derartigen Austausch zu schaffen“, so der Mediziner. Wichtig seien daher auch Innovationen wie die am UKM eingerichtete Sprechstunde für seltene Erkrankungen im Kieferbereich.
Professor Johannes Kleinheinz
Weitere Forschung soll Betroffenen helfen
Bedeutsam sei aber auch die Rolle der Forschung, betont Kleinheinz. Heute gebe es beispielsweise eine Behandlung mit einem Off-Label-Medikament, die immer wieder Erfolge zeige. Doch auch hier ist das Grundproblem: Weil es zu wenige Erkrankte gibt, kann nur schwer eine belastbare und repräsentative Studie erstellt werden – und so gibt es auch kaum Aussicht auf eine offizielle Zulassung der Medikation bei chronischen nicht bakteriellen Entzündungen. Das will Kleinheinz ändern: Er erforscht, ob und inwiefern sich derartige Erkrankungen über eine Analyse der Durchblutung im Kiefer bereits im frühen Stadium feststellen lassen. Schnellere Hilfe hätte sich auch Madej damals gewünscht. „Das Wichtigste ist aber, dass ich heute auf alles zurückschauen und lachen kann“, sagt die Frau mit dem alten Ich im Portemonnaie – und lacht.
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