1. www.wn.de
  2. >
  3. Münster
  4. >
  5. Forschen-und-heilen
  6. >
  7. Ein Kind aus dem Eis

  8. >
Sonderveröffentlichung

Darmkrebs

Ein Kind aus dem Eis

Dass Martin Wolters mit seiner Frau seinen zweiten Sohn bekommen hat, verdankt er einem Flyer. Nach seiner Darmkrebsbehandlung wäre es dafür zu spät gewesen. „Es findet allgemein zu wenig Aufklärung über das Thema statt“, sagt Professorin Sabine Kliesch, Direktorin der Andrologie am Uniklinikum Münster (UKM).

Von Timo Gemmeke

Mit einer Pinzette werden Samenspender aus einem Kühlbehälter genommen. Foto: dpa

Im Jahr 2013 wurde bei Wolters, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, Darmkrebs festgestellt. Damals war er gerade 33 Jahre alt. Typische Anzeichen der Erkrankung – etwa krampfartige Bauchschmerzen, Gewichtsabnahme und Verhärtungen im Bauchraum – hatte er anfangs nicht. „Das Einzige, was anders war als sonst, war die Häufigkeit des Stuhlgangs“, erinnert sich Wolters. „Ich war immer sehr sportlich und dachte, dass ich meinen Körper und seine Signale gut kenne.“ Als er dann zusätzlich Kreislaufprobleme bekam, entschied er sich, zu einem Arzt zu gehen. Dieser riet ihm, sich im Magen- und Darmbereich einmal genauer untersuchen zu lassen – von Krebs war da noch keine Rede. Als Wolters zehn Tage später zur Darmspiegelung kam, fanden die Ärzte den Grund für seinen häufigen Stuhlgang: ein Rektumkarzinom, etwa acht Zentimeter groß – also Darmkrebs.

Professorin Sabine Kliesch

Schockdiagnose Darmkrebs

„Jemand nimmt dein Leben und wirft es aus dem Fenster“, so beschreibt Wolters das Gefühl am Tag der Diagnose. Im Mittelpunkt stand nur ein Gedanke: Du hast Krebs, Darmkrebs, und vielleicht ist es schon zu spät. „Ich habe damals nur an die Krankheit gedacht und daran, was die nächsten Schritte sind – nicht an das, was vielleicht danach kommen könnte“, erzählt er heute. Wann beginnt die Bestrahlung? Wann die Chemotherapie? Diese Fragen schossen dem 33-Jährigen durch den Kopf.

Martin Wolters

Zwei Wochen vor Beginn der Chemotherapie stieß er über einen Flyer auf die Idee, die ihn ins UKM führte und ihm später seinen Kinderwunsch erfüllen sollte: die Kryokonservierung seiner Spermien. Rückblickend ist Wolters schockiert, dass er nicht umfangreicher und vor allem früher informiert worden ist. „Das war eindeutig zu wenig Aufklärung“, sagt er heute. Er könne nachvollziehen, dass auch die behandelnden Ärzte vor allem an die nächsten, drängendsten Schritte der Therapieplanung dächten – das Gleiche habe er ja auch getan. „Aber die Zeugungsfähigkeit wird oft vergessen, obwohl sie für viele Menschen so wichtig ist.“

Krebsbehandlung als Risiko für den Kinderwunsch

Das sieht auch Sabine Kliesch so. Sie leitet die Klinik für Andrologie am Uniklinikum Münster seit 2008 und forscht unter anderem zu Kinderwunschbehandlung, Kryokonservierung, Fertilitätssicherung und Spermiengenetik und -funktion. „Im klassischen Ablauf von Bestrahlung, Chemotherapie und Operation geht der Gedanke an einen möglichen späteren Kinderwunsch oft unter“, weiß die Medizinerin.

„Dabei birgt jeder dieser Schritte bereits einzeln ein großes Risiko für die Samenqualität oder Erektionsfähigkeit.“ Das heißt: Als Folge der Behandlungen – vor allem, wenn etwa die Bestrahlung und die Operation den Unterkörper betreffen oder hodenschädigende Medikamente eingesetzt werden müssen – können Patienten oft zeugungsunfähig werden. „Deshalb ist es umso wichtiger, früh über einen möglichen späteren Kinderwunsch nachzudenken und die nötigen Maßnahmen dafür im Voraus zu treffen“, erklärt Kliesch.

Schon gewusst?

Kryokonservierung: oft ungenutzte Chance

Ein anderer Grund, warum so lange Zeit nur sporadisch über die Möglichkeit einer Kryokonservierung aufgeklärt worden ist, liegt nach Klieschs Ansicht darin, dass Krankenkassen die Kosten dafür – etwa bei Tumorpatienten – erst seit 2021 übernehmen müssen. „Das war lange Zeit nicht so“, erinnert sich Kliesch auch an ihr eigenes Studium zurück, in dem Kryokonservierung noch überhaupt kein Thema war. Bei den Studierenden am UKM ist das anders. Das Thema müssen mittlerweile alle absolvieren – egal ob sie später als Allgemeinmediziner oder An­drologe arbeiten wollen.

Kliesch hat zusätzlich an einer Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zur Aufklärung bei onkologischen Erkrankungen mitgewirkt. Sie soll Medizinern eine Orientierung geben, inwiefern sie die Aufklärung über eine Kryokonservierung bei Tumorpatienten fest in die Therapieplanung einbinden.

Ein weiterer Grund, warum Kryokonservierung, künstliche Befruchtung und Zeugungsunfähigkeit weiterhin eher ein Nischendasein fristen, liegt laut Kliesch an ihrem gesellschaftlichen Bild. „Vieles, was damit zu tun hat, ist schambehaftet“, sagt sie. Dabei müsse das Thema viel mehr Beachtung finden – nicht nur bei Krebspatienten und älteren Menschen, die um ihre Zeugungsfähigkeit bangen. „Bereits Kinder und Jugendliche sollten über die Möglichkeit aufgeklärt werden, ihre Spermien oder auch bei einer bereits vorgeschädigten Spermienproduktion etwas Hodengewebe einzufrieren, um später eventuell Kinder zu bekommen, selbst wenn es rein körperlich dann nicht mehr möglich ist.“ 30 Prozent der von ihr betreuten Anwärter für eine Kryokonservierung seien bereits heute unter 25 – Tendenz steigend.

Professorin Sabine Kliesch weiß, dass die Kryokonservierung schambehaftet ist. Dabei wäre es wichtig, dass bereits Jungen und männliche Jugendliche darüber aufgeklärt werden, dass sie ihre Spermien einfrieren können, um später Vater werden zu können – auch wenn sie krank werden sollten. Foto: UKM/Kochinke

Was passiert bei der Kryokonservierung?

Das Verfahren einer Kryokonservierung ist relativ simpel: Nach einem Vorgespräch wird das Ejakulat des jeweiligen Patienten erst getestet, um sicherzugehen, dass die Qualität und Anzahl der Spermien ausreichen, um Kinder zu zeugen und den Vorgang der Konservierung zu überleben. Denn: Beim Auftauen von minus 190 Grad auf Zimmertemperatur und beim „Herauswaschen“ der Spermien aus einer sogenannten Schutzflüssigkeit geht etwa die Hälfte verloren. In der Regel werden 36 „Strohhalme“, gefüllt mit je 300 Mikroliter Ejakulat, eingelagert und mit Flüssigstickstoff heruntergekühlt. „Damit sollten mehrere Behandlungen möglich sein,“ erklärt Kliesch.

Wie lange die Spermien dann eingefroren sind, ist für eine spätere potenzielle Befruchtung egal. „Es gibt Paare, die tauen sie nach zwei Jahren auf, manche erst nach 15,“ schildert Kliesch. Entscheidend sei dabei auch das Alter der Frau, deren Eizellen mit den konservierten Spermien befruchtet werden sollen. „Es sind also mehrere Parameter, die dabei beachtet werden müssen,“ sagt Kliesch.

Alles gut gegangen

Martin Wolters’ Spermien lagen knapp drei Jahre auf Eis, bis er mit seiner Partnerin den Entschluss fasste, eine künstliche Befruchtung zu versuchen. „Sicher ist der natürliche Weg schöner, aber der war eben nicht mehr möglich“, erzählt er. Er und seine Ehefrau blicken auf eine „Bilderbuchgeburt“ zurück, wie sie beide sagen. Die Kosten für Konservierung und Lagerung musste das Paar damals noch selbst übernehmen.

Mittlerweile ist ihr zweiter Sohn fünf Jahre alt. „Und er ist das Beste, was aus dem Krebs entstanden ist. Wir haben alles richtig gemacht,“ ist sich Martin Wolters sicher. Sein Depot in der Uniklink, in dem seine Spermien gelagert waren, hat er mittlerweile aufgelöst. „Wir wollten immer zwei Kinder. Die haben wir jetzt, und so ist es dann auch gut.“

Startseite