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Forschen & Heilen

„Endlich wieder ausgeschlafen“

Münster

Eigentlich ist Antonetta Wesselink immer sehr aktiv gewesen. Die 70-Jährige fährt gerne Fahrrad und passt auf die gemeinsamen Enkel auf. Am liebsten geht sie mit ihrem Mann campen und hat so schon viel von der Welt gesehen. Untypisch also, dass sie sich 2015 zunehmend müder und erschöpfter fühlte.

Von Lina Schmissas  

„Ist das schön, wenn man sich endlich wieder ausgeschlafen fühlt“, sagt Antonetta Wesselink, der Jacqueline Lisson (l.) einen Zungenschrittmacher eingesetzt hat. Foto: Peter Leßmann

2015 fühlte sich Antonetta Wesselink plötzlich anders als sonst. „Ich war richtig kaputt, und das sogar schon am Morgen nach dem Aufstehen“, sagt sie heute. Dass sie vom Sofa kaum noch hochkommt und immer wieder einnickt, veranlasst sie, ihren Hausarzt aufzusuchen. Und der hat schnell eine Erklärung für ihre Abgeschlagenheit: Sie leide möglicherweise an OSAS, einem obstruktiven Schlaf-Apnoe-Syndrom.

Obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom

Bei einem obstruktiven Schlaf-Apnoe-Syndrom entspannt sich nachts die Muskulatur des Rachens, die Zunge fällt nach hinten und verlegt so den Atemweg. Es folgt eine Atempause, eine sogenannte Apnoe. Dauert dieser Zustand länger an, wird das Gehirn unzureichend mit Sauerstoff versorgt. „Das ist ein einfaches mechanisches Problem, aber hat weitreichende Folgen. Im Gehirn werden wegen des Mangelzustandes Stresshormone ausgeschüttet. Wenn diese dauerhaft erhöht sind, kann dies nicht nur zu Bluthochdruck, sondern unbehandelt auch zu Herzinfarkten oder Schlaganfällen führen“, erklärt Jacqueline Lisson, die als Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgin an der Uniklinik Münster (UKM) tätig ist. Wird der Atemreiz stark genug, schrecken die Patienten kurz auf und nehmen einen tiefen Atemzug, bevor sie, ohne sich später daran erinnern zu können, weiterschlafen – bis zum nächsten Atemaussetzer, von denen sich jede Stunde mehrere ereignen.

Meist bekommen die Betroffenen davon selbst nichts mit und sind – wie auch Wesselink – zunächst überrascht von der Diagnose. Oft sind es eher die Angehörigen, die von den Zwischenfällen berichten. Wesselink kennt dieses Phänomen von ihrem Ehemann, der ebenfalls erkrankt ist. Er erhielt die Diagnose vor ihr, sie erinnert sich noch gut daran: „Damals hatte ich Angst, schlafen zu gehen. Er hat ja ständig aufgehört zu atmen. Dann habe ich ihn immer anstupsen müssen, nur, um zu sehen, ob er überhaupt noch lebt. Das war wirklich unheimlich.“

Um die Diagnose zu sichern, wird Wesselink eine genauere Untersuchung im Schlaflabor empfohlen. Hier werden während des Schlafes Messungen durchgeführt und so zum Beispiel die Atmung überwacht. Bei der Patientin werden tatsächlich 46 Atemaussetzer pro Nacht gezählt.

Zungenschrittmacher als Therapiemöglichkeit

Die Schlafmaske, die ihrem Mann sehr gut hilft, soll Wesselink nun auch tragen. Sie ist die am häufigsten angewandte Therapie und für den Anfang empfohlen. Die Patientin muss sie nachts fest an das Gesicht anschnallen und über einen Schlauch mit einem Gerät verbinden. Dann wird mit Überdruck der Atemweg offen gehalten. Doch nicht alle Träger tolerieren dies gleichermaßen gut. „Das fühlte sich an, als hätte ich den ganzen Mund voller Sand“, versucht die gebürtige Holländerin zu beschreiben, warum sie schließlich diese Therapieform aufgeben muss. Eine bessere Lösung soll also her, denn unbehandelt können ein OSAS und seine Folgeschäden die Lebenszeit um bis zu zehn Jahre verkürzen, mahnt Lisson. Wesselink wird am UKM fündig, wo sich Lisson gut mit den verschiedensten Behandlungsmöglichkeiten auskennt, die von der einfachen Atemmaske über Zahnschienen bis hin zu Kieferumstellungen reichen. Normalerweise ist die chirurgische Schlafmedizin eine Domäne der HNO-Abteilungen, aber als Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgin verfügt sie über das nötige Know-how, um alle Therapieoptionen anbieten und die individuell beste auswählen zu können, in Wesselinks Fall einen Zungenschrittmacher. Es handelt sich hierbei um einen Impulsgeber für den Zungennerv, der, während er nachts aktiviert ist, regelmäßig Signale an die Zunge sendet, damit diese nicht in den Rachen zurückfällt.

„Dass sich eine MKG-Abteilung mit Zungenschrittmachern beschäftigt, ist einmalig in der EU“, freut sich Lisson, der als Vorstandsmitglied der europäischen Akademie für Zahn-Schlafmedizin (EADSM) sehr daran gelegen ist, dass auch andere Verfahren neben der klassischen Schlafmaske bekannter werden. Dafür gibt es in der münsterischen Abteilung eine extra eingerichtete Sprechstunde, die stets gut besucht ist. Lisson ist stolz, dass sich die Patientenzahlen in den vergangenen Jahren verfünffacht haben. Die Tests, die zur Auswahl der richtigen Therapieoption durchgeführt werden, sind sehr umfangreich und reichen von Spiegelungen des Rachens und der Nase bis hin zur Erhebung eines Zahnstatus’ und einer Prüfung der Kiefergelenke. „Das Schwierigste ist also nicht die OP“, betont die Fachärztin, die all dies durchführen kann und zudem eng mit den Schlaflaboren zusammenarbeitet.

Der Zungenschrittmacher sendet regelmäßig Signale an die Zunge, damit die nicht in den Rachen fällt. Foto: Peter Leßmann

Im November 2020 kann Wesselink endlich operiert werden. Dafür braucht es nach neuester Technik nur zwei kleine Schnitte und ein gut eingespieltes OP-Team. Durch die erste Öffnung unter dem Kinn wird die Elektrode am Zungennerv angebracht. Die Herausforderung besteht darin, nur diejenigen Fasern des Leitungsbündels zu erfassen, die für ein Rausstrecken der Zunge zuständig sind. Deswegen müssen die Operierenden den Nerv aufspalten und die einzelnen Fasern testweise stimulieren, wobei sich das Ergebnis unmittelbar an der dadurch ausgelösten Zungenbewegung erkennen lässt. Ein zweiter Schnitt am Brustkorb dient dazu, die Batterie anzubringen. Zusätzlich platzieren die Ärzte einen Sensor zwischen den Rippen, der die Atembewegungen registrieren soll. Nach der etwa zweistündigen und in der Regel komplikationsarmen OP geht es Wesselink direkt gut, trotzdem bleibt sie noch einige Tage zur Nachbeobachtung im UKM, wo sie sich sehr gut aufgehoben fühlt.

Schlaf wiedergewonnen

Antonetta Wesselink ist mit dem Ergebnis und der Beratung durch ihre Ärztin überaus zufrieden. Abends vor dem Schlafengehen kann sie den Schrittmacher selbstständig mit einer Fernbedienung aktivieren. Nur am Anfang sei dies sehr ungewohnt gewesen, jedoch nicht schmerzhaft, eher „wie ein lautes Herzklopfen im Hals“. Deshalb bleibt ihr noch eine voreingestellte Zeit zum Einschlafen, bevor das Gerät seine Arbeit aufnimmt.

Seit der OP geht es Wesselink viel besser, sie ist wieder ganz die Alte. „Ist das schön, wenn man sich wieder ausgeschlafen fühlt“, freut sie sich über die wiedererlangte Lebensqualität. Und auch Lisson ist sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Wesselinks Ehemann hingegen beneidet seine Frau, wenn die beiden zu ihrem neuen Chalet fahren, das sie sich auf einem Campingplatz in Heimatnähe gekauft haben. Denn sie hat immer alles dabei, während er den Koffer mit seiner Schlafmaske mitnehmen muss.

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