Knochenbruch
„Mein Fuß ist mir heilig“
Agnes Harbert wollte lediglich ihre Blumen auf dem Balkon vor Überwässerung schützen und plötzlich ragt ihr Unterschenkelknochen offen heraus, nachdem sie von der Leiter stürzte. Ihre Diagnose, ein offener Trümmerbruch, stellt eine Herausforderung dar.
Einmal am Tag nimmt die 71-jährige Agnes Harbert den 10er-Maulschlüssel. Dann beugt sie sich in ihrem Rollstuhl nach vorne zum rechten Knöchel, packt erst die eine Schraube am Fixateur, der aus ihrem Unterschenkel herausschaut, und dreht sie um 360 Grad. Dann macht sie das Gleiche mit der zweiten Schraube. Sie weiß: Das wird noch wehtun heute Abend. Aber sie wird zuversichtlich bleiben, dass sich ihr Schmerz lohnt. Sie will in diesem Jahr wieder ihre ersten Schritte gehen.
Ein Sturz reicht: offener Trümmerbruch
Im Juni 2021 wollte sie „nur mal eben schnell“ von unten die Blumenkästen am Balkon mit ihrem eigenen Akkubohrer durchlöchern, damit das Wasser besser abfließen kann und ihre Blumen nicht ertrinken. Dabei beugte sie sich zu weit nach links, sodass die Leiter unter ihr wegrutschte. Ihr Mann gehörte zu den ersten Helfern, er sah den Knochen, der aus der Haut des Unterschenkels seiner Frau herausguckte, holte ein Handtuch, um ihr den Anblick zu ersparen und rief die 112.
Agnes Harbert
Bei dem Sturz von der zwei Meter hohen Leiter holte sie sich einen „ganz üblen“ offenen Trümmerbruch, wie es selbst der Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie an der Uniklinik Münster (UKM), Professor Michael Raschke, sagt. Solche „drittgradig offenen Brüche“ nennt er Sorgenkinder, weil es bei ihnen in 30 bis 40 Prozent aller Fälle zu Komplikationen kommt.
So erging es auch Agnes Harbert. Die heute 71-Jährige sollte zwei Mal Pech haben. „Ich hab 70 Jahre nichts gehabt und hab‘s dann volle Lotte gekriegt“, wird sie später sagen. Die erste OP war kompliziert, verlief aber okay. Zunächst sah es so aus, als ob alles ganz normal verheilen würde. „Ich konnte wieder Fahrrad und Auto fahren.“ Doch im Mai 2022 – ein knappes Jahr danach – muss ihr Mann sie wieder in die Notaufnahme bringen. Das Schienbein ist rot, sie kann nicht mehr auftreten. „Da habe ich sie in die Uniklinik gebracht“, erzählt Wilhelm Harbert. Er hatte den richtigen Verdacht. Die Entzündungswerte waren hoch, seine Frau wurde noch in der Nacht wieder operiert.
Steffen Roßlenbroich
Bakterielle Knochenzerstörung
Der Grund: In den Monaten zuvor hatten sich Bakterien in die Wunde eingenistet und ein etwa sieben Zentimeter langes Stück ihres Schienbeins komplett zerstört. „Das war ganz schrecklich“, sagt sie über die Diagnose.
Der Geschäftsführende Oberarzt Steffen Roßlenbroich der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie erklärt: „Das Fiese ist, dass die Patienten von solchen Bakterien zunächst nichts mitbekommen. Die nisten sich wie Parasiten in die Zellen ein und werden irgendwann wieder wachgerufen.“ Vorher haben sie sich in den Knochenzellen vermehrt, ohne dass das Immunsystem oder Antibiotika sie erwischt haben. Die Schienen, Schrauben und Nägel aus Metall in dem Bein erleichtern ihnen das Überleben noch zusätzlich. „Die Patienten bekommen zunächst gar nicht mit, dass die Eindringlinge ihre Knochen völlig zerstören. Er sieht danach aus wie Schweizer Käse.“
Aufwendige Behandlung mit Fixateur
Die Mediziner hatten damals nur noch zwei Möglichkeiten: entweder den Unterschenkel amputieren oder den Schienbeinknochen mit einem aufwendigen, langwierigen und schmerzhaften Verfahren wieder dazu zu bringen, sieben Zentimeter zu wachsen. Dafür sanieren die Ärzte erst die Stelle und bauen sie dann neu auf. Sie sägen die beschädigten Teile des Knochens heraus und setzen in die Lücke einen Zement, der mit Antibiotika angereichert und genau auf die Bakterien eingestellt ist. Das ist erfolgversprechend, weil das Medikament so vier bis sechs Wochen in einer hohen Konzentration an genau der richtigen Stelle wirkt. Anschließend durchtrennten ihr die Ärzte den gesunden Knochen und bauten ihr einen Fixateur ins Bein, der den Knochen zwischen ihrem Knie und dem Rest des Schienbeins langsam auseinanderzieht.
Roßlenbroich: „Diese Behandlung ist nicht mit jedem Patienten möglich.“ Die Mediziner am UKM kennen Ehen, die wegen des entstellenden Fixateurs in die Brüche gehen. „Das geht nur bei Patienten, die Geduld haben, die mitmachen und die eine tolle Unterstützung zu Hause haben.“ Die hat die Ostbevenerin: „Mein Mann und meine Schwiegertochter haben sich voll reingekniet“, sagt die Seniorin, die mit ihrem Mann und der Familie ihres Sohnes auf einem Bauernhof wohnt. „Das war toll.“ Nur das mit der Geduld ist so eine Sache: „In meiner Familie ist es keiner gewohnt, dass ich sitze und nichts mache.“ Entsprechend nervt sie das Rumsitzen. „So viele Bücher kann man gar nicht lesen.“
Dazu kommen die Schmerzen, die sie in den vergangenen Monaten erduldet hat. „Abends tat das sauweh“, sagt sie. Wenn sie den Knochen mit dem Schraubenschlüssel einen Millimeter langzieht, dann schmerzen vor allem die Weichteile und Muskeln, die mitwachsen. Hinzu kommen die Drähte, die durch die Haut wandern. Darum achtet sie darauf, dass ihr niemand versehentlich zu nahe kommt. „Das war mir heilig, da durfte keiner dran.“
Selbst ihre Enkelkinder haben einen großen Bogen um sie gemacht, damit sie nicht versehentlich an den Fixateur stoßen. Immerhin die Krankenpflege durfte anfangs jeden zweiten Tag zu ihr nach Hause kommen, später zwei Mal in der Woche, um sie zu versorgen.
Knochenwachstum braucht Geduld
„Der Knochen ist ein Wunderwerk“, sagt Raschke. Denn: „Knochen wird immer wieder zu Knochen.“ Anders als anderes Körpergewebe verheile er ohne Narben. Die Ärzte müssen ihm nur zeigen, wohin er wachsen muss. Wenn das gelingt, könnten Knochen bis zu 25 Zentimeter lange Lücken überbrücken.
Das hat seinen Preis: Es dauert. Der Knochen wächst jeden Tag einen Millimeter. Die Lücke zwischen Harberts Knie und dem Rest ihres Schienbeins ist etwas mehr als sieben Zentimeter groß. Um das zu überbrücken, müssen also 70 Tage vergehen. Und dann braucht der Knochen noch drei Mal so lange, um wieder das Gewicht der Patientin tragen zu können. Macht also zusammen 280 Tage.
Forum verspricht schnellere Heilung
In diesen Tagen wird der Fixateur abgebaut. Dann bekommt der Knochen Zeit, fest zu werden. Voll belasten wird Agnes Harbert ihn frühestens Mitte des Jahres dürfen. Das Gewebe ist auf dem Röntgen-Bild zurzeit lediglich ein leichter Schatten und nur schwer zu sehen. Solange das so ist, wird sie den Fuß höchstens so aufsetzen dürfen, als ob ein Butterkeks drunter liegt, das nicht kaputtgehen darf.
Professor Michael Raschke
Bei Kindern und Jugendlichen ist die Chance, dass das klappt, größer als bei Senioren. „Je junger, desto schneller wächst und heilt der Körper,“ sagt Roßlenbroich. Und Raschke und er verhehlen nicht: Viel älter hätte Agnes Harbert nicht sein dürfen, als sie den Unfall hatte. Sonst hätten sie ihr statt des Verfahrens eine Amputation vorgeschlagen.
Das war für die Landwirtin nie eine Option. „Mein eigener Fuß ist mir immer noch heilig“, sagt sie. Für sie ist es ein „unglaubliche Glück“, den Fuß behalten zu können. Darum macht sie jetzt alles, um ein kleines Kunstwerk in ihrem Unterschenkel zu züchten. Sogar geduldig sein.