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Sonderveröffentlichung

Schmerztherapie

Schmerz, lass nach!

Münster

„Mein Leben hat wieder neu begonnen“, sagt Gabriele Estner. Die 59-Jährige ist Patientin der Schmerztagesklinik am Uniklinikum Münster (UKM). „In der Therapie lernt man sich selbst und seinen Schmerz intensiv kennen“, erzählt sie.

Von Marlies Grüter

Professor Daniel Pöpping hat Gabriele Estner geholfen, ihren Schmerz loszuwerden. Foto: UKM/Fotozentrale/Wibberg

Niemand muss den Schmerz einfach nur aushalten“, sagt ihr Arzt, Professor Daniel Pöpping, Leiter der Schmerzambulanz und Schmerzklinik am UKM. Er weiß, dass viele Menschen mit chronischen Schmerzen leben und resigniert haben. Die Gespräche, die er täglich mit Ratsuchenden führt, zeigen dem Facharzt für Anästhesie den großen Leidensdruck der Patientinnen und Patienten bei gleichzeitig gefühlter Ausweglosigkeit. „Ich kann nicht mehr“, ist ein Satz, den er in seiner Sprechstunde häufig hört.

„Unser Ansatz ist es, den Patienten wieder neue Türen zu öffnen, mit ihnen neue Strategien zu entwickeln, die zu einer Verbesserung ihrer Lebensqualität führen“, sagt Pöpping. „Das Ziel unserer Behandlung ist es, die Patienten aus der passiven Duldung des dauernden Schmerzzustandes herauszuholen. Sie sollen zu Experten im Umgang mit sich selbst und ihren Beschwerden werden und Möglichkeiten erlernen, sich selbst zu helfen.“

Gabriele Estner hat eine lange Schmerzgeschichte hinter sich, als sie sich im Herbst 2020 ratsuchend, aber mit einem kleinen Funken Hoffnung an die Schmerztagesklinik am UKM wendet. Über zehn Jahre rauben ihr Schmerzen im ganzen Körper die Lebensqualität. Zuerst diagnostizieren die Ärzte bei ihr Rheuma und Arthrose. Sie behandeln sie mit verschiedenen Medikamenten, aber die Schmerzen bleiben.

Schmerzen bis zur Depression

Auch weitere Fachärzte, die sie aufsucht, können ihr nicht helfen. „Die Ärzte sprachen vom Verschleiß in den Gelenken und haben mir verschiedene Vorschläge für eine Behandlung gemacht. Ich habe wirklich alles ausprobiert, aber nichts hat mir wirklich geholfen“, sagt Gabriele Estner. „Ich bin psychisch in ein tiefes Loch gefallen. Der Schmerz hat sich über die Zeit in meinem Leben breitgemacht und schließlich meinen Alltag komplett bestimmt“, berichtet sie. „Beruflich und privat habe ich mich immer weiter zurückgezogen. Weil ich kaum noch laufen konnte, ging es mir jeden Tag schlechter. Ich war mit meinen Schmerzen alleine und habe in meiner Hilflosigkeit eine Depression entwickelt. Von den Ärzten fühlte ich mich oft nicht ernst genommen und im Stich gelassen. Gleichzeitig wurden die Schmerzen immer unerträglicher. Ich war verzweifelt und sah mich schon im Rollstuhl sitzen.“

Dieses Phänomen kennt Pöpping gut. „Psychische Faktoren spielen im Bereich der Schmerzen und des Schmerzempfindens eine sehr große Rolle. Die seelische Belastung der Patienten durch den körperlichen Schmerz führt dazu, dass sie den Schmerz noch stärker wahrnehmen.“ Pöpping, der sich seit vielen Jahren mit der chronischen Schmerztherapie beschäftigt, hat schon von zahlreichen ähnlichen Leidensgeschichten erfahren.

„Oft sind die Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen jahrelang verzweifelt auf der Suche nach der richtigen Diagnose und Behandlung“, weiß er. „Ist der Schmerz aber erst einmal chronisch geworden, brauchen die Betroffenen auf jeden Fall professionelle Hilfe durch Schmerzexperten.“ „So war’s auch bei mir“, sagt Gabriele Estner. Sie erfährt schließlich, dass sie an Fibromyalgie (Weichteilrheumatismus) erkrankt ist und eine andere Behandlung als bisher benötigt. Um aber die chronischen Schmerzen in den Griff zu bekommen, rät ihre Hausärztin, Kontakt zur Schmerztagesklinik am UKM aufzunehmen.

Schon gewusst? 23 Millionen Menschen in Deutschland leiden laut Deutscher Schmerzliga an chronischen Schmerzen, davon sind 3,4 Millionen schwerstgradig (Stand 2019) betroffen, sodass Spezialisten sie behandeln müssen. Foto: imago images / Westend61

Vierwöchige Schmerztherapie

„Letztes Jahr im September habe ich mich angemeldet. Im November liefen die Vorgespräche und im vergangenen April konnte ich vier Wochen lang täglich hier in die Klinik kommen. Das hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Schmerz, lass nach!“, erklärt Gabriele Estner und ihre Augen blitzen. In der Therapie hat sie erfahren, wie komplex das Thema Schmerz ist und welche verschiedenen Anteile ihre ganz persönlichen Schmerzen haben. „Es sind die körperlichen Einschränkungen durch die Erkrankung, aber auch seelische Verletzungen, die meine Schmerzen ausmachen“, beschreibt sie.

Besonders gutgetan hat ihr die Kunsttherapie. „In der ersten Einheit musste das Blatt, auf dem ich malen konnte, immer größer werden“, lacht sie. „Alles, was mich bedrückt hat, bekam Farbe und Form. Das war eine sehr intensive Erfahrung.“ Kennengelernt hat sie physiotherapeutische und mentale Übungen, die ihr jetzt im Alltag helfen, die Schmerzen aus dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken und dafür den Fokus auf andere Dinge zu lenken. „Wichtig geworden ist mir die Bewegung, das hätte ich vorher nie für möglich gehalten“, erzählt Gabriele Estner. „In der Therapie habe ich die Walkingstöcke für mich entdeckt. Vorher konnte ich kaum laufen, heute sind kilometerweite Touren für mich kein Problem.“

Schmerz ist nicht gleich Schmerz

„Wie für Frau Estner wird für alle Patientinnen und Patienten im Anschluss an die umfassende Diagnostik und die Prüfung der medikamentösen Einstellung ein individueller Therapieplan entwickelt“, beschreibt Daniel Pöpping. Ein interdisziplinäres Team berät über jeden einzelnen Betroffenen. „Denn Schmerz ist nicht gleich Schmerz“, erklärt er. „Wir betrachten in unserer Schmerzambulanz und in der Tagesklinik den Schmerz als komplexes System mit unterschiedlichen Anteilen.“ Körperliche, seelische und soziale Faktoren müssten betrachtet und beachtet werden. „Wir nehmen den Menschen ganzheitlich in den Fokus und beschreiben unseren Ansatz als biopsychosoziales Modell chronischer Schmerzen“, erklärt Pöpping.

Schmerztherapie 

In der vierwöchigen Therapie arbeiten die Patienten in kleinen Gruppen und auch ganz individuell mit den Experten der verschiedenen Fachrichtungen. Über terminierte Nachbesprechungen wird der Kontakt zur Tagesklinik gehalten, um die Patienten in den Alltag zu begleiten. „Mit den Schmerzen umzugehen, kann so leicht sein, wenn man weiß, wie’s geht“, ist Gabriele Estner überzeugt. „Dies bedeutet jedoch auch, dass einem viel Kraft, Energie und Ausdauer abverlangt werden, aber die Anstrengung ist es allemal wert.“ Sie ist hoch motiviert, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. „Bewegung, Bewegung, Bewegung gehört für mich jetzt jeden Tag dazu“, berichtet sie. „Und als Nächstes werde ich an einer Ernährungsumstellung arbeiten.“

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