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Kleiner Bühnenboden: Compagnia Buffo präsentiert „Lear“

Firmenchef im Ruhrpott-Slang

Münster

Willi Lieverscheidts „Lear, der König von Wanne-Eickel“ als „freie Adaption“ nach William Shakespeares Seelenmonument „King Lear“ bietet radikalen Minimalismus. Das freut die Besucher im Kleinen Bühnenboden.

Von Günter Moseler

Willi Lieverscheidt schlüpft in alle Rollen Foto: COMPAGNIA BUFFO

Rote Vorhänge, ein hölzerner Thron, eine rote Schatulle: königliche Insignien! Willi Lieverscheidts „Lear, der König von Wanne-Eickel“ als „freie Adaption“ nach William Shakespeares Seelenmonument „King Lear“ bot radikalen Minimalismus. Der Hauptdarsteller agierte zugleich als Ensemble wie Erzähler, Slapstick-Komiker und Verwandlungskünstler, zischte und kommentierte als leibhaftige Tonspur für Sturm und Stummfilm, mimte Kulissenschieber, Bühnentechniker und Publikumsseelsorger: „Ist Ihnen zu kalt?“

Mit bekümmertem Gesicht, stockender Stimme, zitternder Hand und wirrem Weißhaar hockte Lieverscheidt da: Ein Lear aus dem Bilderbuch. Er referierte die unselige Geschichte seines Abgangs und vorgezogenen Erbfalls zugunsten dreier Töchter. Zwei von denen werden mit kaltherziger Habgier auftrumpfen, nur die dritte, Cornelia, wird eine treu Liebende sein. Für sie und alle Nebenrollen sprang Lieverscheidt hin und her, wisperte, klagte, schrie und sang, ließ die bösartigen Töchter kettenrauchend im Vamp-Alt gurren oder giftig falsettieren, donnerte den Diener im Bass und lieh dem Schwiegersohn sonoren Bariton. Indem Lieverscheidt seinen Lear als Firmenchef ins Ruhrpott-Westfalen platziert, mischt sich flotter Bergbau-Slang in die Dialoge: „Vatter“, so flöten die Töchter zum Alten, dem bald dämmert, dass ihn (fast) niemand mehr haben will. Lieverscheidt überzog ihr niederträchtiges Gefasel gnadenlos – als dürfte man Schurken letztlich nie ernstnehmen. Seinem Lear verpasste er senile Momente, die schlafwandlerisch zur Hellsicht finden: Shake­s­peare texttreu! Clou der Inszenierung sind medial-fiktionale Szenenwechsel von der Bühne in den Stummfilm und von da aus ins Schattentheater! Figuren erscheinen wie in ferner Vergangenheit, atmosphärisch zurückkatapultiert in grobkörnige Eckigkeit und geisterhafte Schattenschwärze. Lear begegnet so im Pflegeheim seinem zweiten „Ich“ oder taucht selbst ins Irreale ein, bevor er das Publikum als Chor dirigiert: „Was ist wohl des Menschen Sinn?“

Virtuos die feindliche Firmenübernahme der Töchter, hier führte Lieverscheidt eine Schaueroperette zu klassischer Musik auf, von Verdis „Trovatore“ über Puccinis „Gianni Schicchi“ bis in die Koloraturen der mozartschen „Königin der Nacht“. Alles erfasste Lieverscheidts „Lear“: Das Atemlose und Rasende, Irritierte und Blinde, das in allen Fasern Zerrissene.

Willi Lieverscheidt: Ein Held des Total-Theaters, zwischen professionell und provisorisch, mit darstellerischer Rasanz bis an den Rand zur Selbstaufgabe: ein wahrhaftiger Theater-Tiger!

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