Kammertheater eröffnet Theaterjahr mit Manfred Karges „Jacke wie Hose“
Geschlechtertausch aus purer Not
Münster
Nach nur einem Jahr, sieben Monaten und zwölf Tagen Ehe stirbt ihr Mann. Um wenigstens seinen Arbeitsplatz zu retten, schlüpft Ella in die Kleider von Max und klettert jeden Morgen selbst auf den Kran. In den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg gibt der Mensch lieber seine Identität auf als einen Job. Das Kammertheater „Kleiner Bühnenboden“ zeigt „Jacke wie Hose“ von Manfred Karges.
Von der Decke hängt eine Europalette. Für Ella wird sie zur Schaukel, auf der sie als junges Mädchen von der Liebe träumt. Die kommt dann auch in Form des Kranführers Max. Allerdings dauert sie nicht lange. Nach nur einem Jahr, sieben Monaten und zwölf Tagen Ehe stirbt der Mann. Um wenigstens seinen Arbeitsplatz zu retten, schlüpft Ella in die Kleider von Max und klettert jeden Morgen selbst auf den Kran. In den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg gibt der Mensch lieber seine Identität auf als einen Job.
Manfred Karges 1982 in Bochum uraufgeführtes Schauspiel „Jacke wie Hose“ ist die Geschichte eines Geschlechtertausches, aus der Not der Weimarer Zeit geboren und dann durchgezogen bis zur Wiedervereinigung. Im Kleinen Bühnenboden, wo die Inszenierung von Eva-Maria Lüers am Freitag Premiere hatte, schlüpft Carolin Wirth in die Rolle der Ella, die sich fortan als Max durch das Leben kämpft, und überzeugt dabei durch große Wandlungsfähigkeit und starke Präsenz.
Skat dreschen, saufen und ein ordnender Griff in den Schritt – schnell hat Ella gelernt, was einen Mann ausmacht. Schwieriger wird es, als sich das neue Kantinenmädchen in sie verliebt. Verwirrung stiften auch die Straßenkämpfe zwischen Nazis und Kommunisten. Um der Musterung zu entkommen, meldet sie sich zur SA und überlebt den Zweiten Weltkrieg in der Etappe, immer auf der Hut, ihre wahre Identität zu verbergen.
Nach dem Krieg landet sie als Knecht bei einem Bauern im Emsland, denn wieder ist der Mann auf dem Arbeitsmarkt mehr wert als die Frau. Das ändert sich später in der Fabrik, wo der Besitzer sie wegrationalisiert, als er feststellt, dass die Arbeit von einer Frau billiger erledigt werden kann. Doch zu diesem Zeitpunkt steckt sie schon so sehr in ihrer Männerrolle, dass sie nicht mehr herauskommt. Und wozu auch? Den Traum von Liebe und Kindern hat sie schon lange ausgeträumt.
Wirth, in rustikaler Männerkleidung und mit Schiebermütze, unter der sie ihre Locken versteckt, schildert die einzelnen Stationen eindringlich und lässt auch die Komik nicht zu kurz kommen, die sich aus ihrem Versteckspiel ergibt. Man nimmt ihr den Max ab, als der sie auf der Bühne agiert, und auch die Ella, als die sie ihre Aktionen kommentiert. Reibungslos meistert sie den Wechsel zwischen der Rolle und der Rolle in der Rolle. So nimmt sie den Zuschauer mit auf eine ebenso unterhaltsame wie aufschlussreiche Fahrt durch 70 Jahre deutsche Geschichte.
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