Freies Musical Ensemble präsentiert Musical „Parade“
Spießbürger suchen den Schuldigen
Münster
Die berühmte Lithographie „Das Gerücht“ des Malers und Zeichners Paul Weber (1893-1980) zeigt eine monströse Schlange, die wie ein Luftschiff durch nächtliche Häuserschluchten manövriert, während insektenhafte Menschen sich aus unzähligen Fenstern stürzen und dem Schlangenkörper einverleiben. Der historische Kriminalfall des gelynchten jüdischen Fabrikdirektors Leo Frank (1884-1915) war auch ein Triumph rassistisch und antisemitisch motivierter Gerüchte. Die Inszenierung des Freien Musical Ensembles (Gesamtleitung: Ingo Budweg) des Musicals „Parade“ von Jason R. Brown spiegelte die Grundsubstanz des Gerüchts in einer Kammerszene: Leo Frank zahlt die Angestellte Mary Phagan aus, sie geht – und wird auf dem Heimweg (hinter der Bühne) ermordet. Kein Zeuge, kein Motiv, kein Täter: doch für die durch den verlorenen Bürgerkrieg gedemütigte Südstaatengesellschaft ist der Fall klar: Jude und Yankee Leo Frank (furios: Frank Janßen) ist schuldig.
Für die personalintensive Besetzung bot der Konzertsaal der Freien Waldorfschule ideale Voraussetzungen: links die Wohnung des Ehepaars Frank, rechts die karge Gefängniszelle, auf der Hauptbühne tummelte sich die Bevölkerung. Scheinidylle und Spektakel erfasste der lapidare Musical-Tonfall mit jener Distanz, die den Weg vom Ehrgefühl zum Exzess kennzeichnet – ein Atemzug. Politik, Presse und Justiz sind allgegenwärtig: Gouverneur Jack Slaton (Christoph Bürgstein) sperrt sich gegen eine Revision des Falles, Journalist Craig (aufgekratzt agil: Sönke Westrup) lechzt nach jedem Milligramm „sensation“, Staatsanwalt Dorsey (mit rüdem Pathos: Melvin Schulz-Menningmann) paukt die Anklage als Show durch, Officer Ivey und Detective Starnes (Lukas Rojahn und Frank Kasuch) kultivieren giftige Tücke.
Manche Szenen – Verhör, Begräbnis, Inhaftierung – zogen beinahe synchron vorüber – oder der eben noch fidele Südstaatenkrawall erstarrte in visionärem Tiefseeblau zum Horrortableau hämischer Untoter. Schatten und Dunst (Bühnentechnik: Georg Weigang und Holger Blumberg) signalisierten die Absurdität der Ereignisse. Grelle Spots entlarvten die brillante Choreographie des Frank, der anzüglich mit fiktiven Missbrauchsopfern flirtet, als Schund-Fantasie spießbürgerlicher Gesinnung. Das Orchester unter Dirigent Ingo Budweg feuerte die revueartige Fröhlichkeit der Festszenen ab, betonte aber auch dumpfe Ostinati, die beklemmend aufs grausige Ende zurollten. Ein fabelhafter Abend, der die rätselhafte Mechanik des menschlichen Gewissens ins Visier nahm. Ovationen.
Startseite