Neue Opfer im Missbrauchsfall von Münster
Sechs Monate bis zur Verhaftung von Adrian V.
Münster/Düsseldorf
Der Missbrauchsfall Münster gibt es immer mehr Opfer. Die Ermittler stehen vor einer unfassbaren Datenmenge. In jeder kleinsten Datensequenz könnte ein Hinweis auf ein Kind stecken, das missbraucht wird. Doch es dauerte Monate, bis der vorbestrafte Hauptverdächtige in U-Haft kam.
Das heute zehnjährige Opfer des in Münster aufgedeckten Missbrauchsskandals hätte möglicherweise viel früher als erst Mitte Mai aus seinen Qualen befreit werden können. Bereits im November sei es gelungen, ein beim Hauptbeschuldigten Adrian V. beschlagnahmtes Smartphone sowie ein Tablet zu entsperren, berichtete Landeskriminaldirektor Dieter Schürmann am Mittwoch im Innenausschuss des Landtags.
Als die Coesfelder Ermittler dabei auf rund 500 Darstellungen von sexuellem Kindesmissbrauch stießen, schickten sie das Material am 25. November an die Staatsanwaltschaft Münster: „Im Raum stand ein möglicher Bewährungswiderruf“, sagte Schürmann. V. war zweimal wegen Besitzes und Vertriebs von kinderpornografischem Material zu je zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden.
Sechs Monate bis zur Verhaftung
Widerrufen wurde die Bewährung indes nicht. Es dauerte sechs Monate, bis Adrian V. am 14. Mai verhaftet wurde. Zuvor hatte die Polizei sein verschlüsseltes Notebook geknackt und Videos vom Missbrauch des Zehnjährigen entdeckt, darunter einer dreitägige Misshandlung des Zehnjährigen Ende April durch mehrere Täter.
Die Zahl der Opfer und der Tatverdächtigen in dem Missbrauchsfall ist weiter gestiegen. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) berichtete von nunmehr sechs identifizierten Kindern als Opfern des Missbrauchs. Der Kreis der Tatverdächtigen sei auf 18 Personen in mehreren Bundesländern gewachsen. „Es gibt allerdings keine neuen Opfer und Beschuldigten aufgrund der Filmauswertungen“, sagte Oberstaatsanwalt Martin Botzenhardt.
Sieben mutmaßliche Täter, darunter Adrian V. als Hauptverdächtiger, dem bislang 15 Taten schweren sexuellen Missbrauchs zur Last gelegt werden, sind in Untersuchungshaft. Weitere Festnahmen gebe es bislang nicht, sagt Botzenhardt. Die Ermittlungskommission „Rose“ ist von 50 auf 76 Mitarbeiter aufgestockt worden.
"Gebirge von Daten"
Bislang seien 1100 IT-Beweismittel mit einem Speichervolumen von 400 Terabyte erfasst worden. „Das sind Gebirge von Daten“, sagte Reul. „Das entspricht einem Schriftsatz von 2,6 Milliarden DIN A4-Seiten oder 520.000 Aktenschränken.“ In der Ermittlungskommission arbeiten laut Reul inzwischen 76 Personen an der Auswertung der Daten. Für die Polizisten seien die psychischen Belastungen enorm.
Hartmut Ganzke, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, kritisierte, dass der Hauptverdächtige erst vergangenen Monat in Haft genommen worden sei. Dessen zehnjähriger Stiefsohn habe noch rund sechs Monate bis Mai weiterhin mit ihm unter einem Dach leben müssen und sei weiter missbraucht worden. Die langsame Reaktion der Behörden mache fassungslos. „Mögliche Versäumnisse insbesondere bei den zuständigen Justizbehörden und Jugendämtern müssen restlos aufgeklärt werden.“
Innenminister Herbert Reul
Nach Angaben Reuls sollen Ermittlungsrichter in Zukunft die Möglichkeit haben, Untersuchungshaft auch dann anzuordnen, wenn bei den Tatverdächtigen keiner der klassischen Haftgründe wie Flucht- oder Verdunkelungsgefahr vorliegt. Bisher sei das nur bei Schwerkriminalität wie Mord oder schwerer Körperverletzung möglich. Auch schwerer sexueller Missbrauch von Kindern sei Schwerkriminalität, sagte Reul. Verdächtige sollten entsprechend behandelt werden. Darüber werde auch auf der Innenministerkonferenz gesprochen, die am Mittwoch in Erfurt begann.
Weil die Personalressourcen bei der Auswertung der Datenberge begrenzt seien, müssten die Ermittler Prioritäten setzen, sagte Reul. Der Schwerpunkt werde auf die Suche und Identifizierung von Opfern gelegt, die noch missbraucht würden, um diese zu befreien. Mangels ausreichender Kapazitäten blieben dadurch aber andere Fälle von Kinderpornografie liegen. „Die Beamten müssen sich fragen, welchen Fall bearbeite ich jetzt, welchen später? Bei der Entscheidung geht es immer um den Schutz von Kindern, wo kann Leid der Kinder verkürzt werden.“
Hinweis: Wer selbst Opfer von sexuellem Missbrauch geworden ist oder jemanden kennt, der Hilfe braucht, kann sich an das Hilfetelefon sexueller Missbrauch wenden: 0800 22 555 30 (kostenlos und anonym). Dabei handelt es sich um eine Anlaufstelle für Menschen, die Entlastung, Beratung und Unterstützung suchen, die sich um ein Kind sorgen, die einen Verdacht oder ein „komisches Gefühl“ haben, die unsicher sind und Fragen zum Thema stellen möchten.
Du bist ein Kind und dich bedrückt etwas? Wenn du niemanden findest, der oder die dir helfen könnte, oder wenn es dir lieber ist, mit einer Person zu sprechen, die du nicht so gut kennst: Dann rufe an bei der „Nummer gegen Kummer“: 116111 (kostenlos und anonym). Wenn du lieber schreibst als redest: Per Mail oder Chat findest du dort jemanden, der sich um deine Probleme kümmert.
In Münster bietet zudem die Beratungsstelle Zartbitter (0251-4140555) Hilfe für Jugendliche ab 14 Jahren an. Zudem werden dort Angehörige und Bezugspersonen von Betroffenen sowie Fachkräfte beraten. Jüngere Kinder können beim Kinderschutzbund anrufen (0251-47180).
Doch auch jeder andere kann etwas tun! Mit der Kampagne „Missbrauch verhindern!“ stärkt die Polizei Erwachsene, damit sie Kinder schützen können. In fünf Schritten - Wissen, Offenheit, Aufmerksamkeit, Vertrauen, Handeln - bekommt man das Rüstzeug, um Anzeichen für Missbrauch zu erkennen und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen.
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