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Psychosoziale Prozessbegleiter

Sexualisierte Gewalt: Betroffene bekommen Hilfe im Zeugenstand

Münster

Sexuelle Übergriffe wie Vergewaltigungen gibt es meistens im privaten Umfeld. Nachbarn, Familie, Freundeskreis: Opfer und Täter kennen sich. Aussagen vor Gericht macht das erheblich schwieriger. Deshalb helfen psychosoziale Prozessbegleiter.

Im Landgericht Münster geht Heike Clephas ein und aus. Deshalb kann die psychosoziale Prozessbegleiterin geladene Zeugen darauf vorbereiten, was sie erwartet – und ihnen im besten Fall die Nervosität nehmen. Foto: Gunnar A. Pier

Wenn Heike Clephas durch die Sicherheitsschleuse ins münsterische Landgericht kommt, winkt sie sich mit den Wachtmeistern links und rechts fröhlich zu. Die Frauen, die sie regelmäßig hierher begleitet, sind in der Regel deutlich angespannter: Sie müssen gleich im Gerichtssaal als Zeugen aussagen, müssen oft Bedrückendes, Beängstigendes, Peinliches schildern. Heike Clephas hilft ihnen. Sie ist eine psychosoziale Prozessbegleiterin. „Meine Aufgabe: bestmöglicher Schutz der Opferzeuginnen“.

Sexuelle Übergriffe wie Vergewaltigungen gibt es, das sagen die Statistiken, meistens im privaten Umfeld. Nachbarn, Familie, Freundeskreis: Opfer und Täter kennen sich in den meisten Fällen. Und genau das hebt die Hürde, Taten anzuzeigen: Kinder müssen gegen Großväter aussagen, Frauen sollen ihre Ehemänner ins Gefängnis bringen – und im Gerichtssaal sitzen Nachbarn und die Familie als Zuhörer und verstärken die Scham. Hinzu kommt letztlich auch Angst vor den Ermittlern: „Für viele ist es das erste Mal, dass die Polizei tatsächlich Freund und Helfer sein kann“, schildert Heike Clephas.

Mit dem Themenschwerpunkt „Sexualisierte Gewalt“ wird unsere Redaktion in den kommenden Tagen und Wochen außergewöhnlich groß über das Thema berichten.

Gemeinsam mit Opfern gegen Täter vorgehen

Die 62-Jährige hilft Opfern dabei, gegen Täter vorzugehen. Die Mitarbeiterin des münsterischen Vereins Chance e.V. wird dazu in entsprechenden Fällen vom Gericht „beigeordnet“, wie es heißt. Doch Betroffene können sich auch selbst melden.

Wie mühsam eine juristische Aufarbeitung für die Opfer ist, weiß sie nur zu gut. Schon der erste Gang zur Polizei erfordere viel Mut. In der Regel werde dort nach einer Anzeige ein Termin für eine Vernehmung vereinbart.

Rechtsmedizin kann die Spuren sichern

Oftmals sinnvoll sei so schnell wie möglich nach einer Tat eine rechtsmedizinische Untersuchung, um Spuren zu sichern. Das, betont Clephas, gehe auch anonym. „Die Rechtsmedizin bewahrt die Spuren bis zu ein Jahr auf.“ Wer sich also nicht sicher ist, ob er seinen Peiniger anzeigen möchte, kann hier erstmal Beweise sichern lassen und sich dann immer noch überlegen, wie es weiter gehen soll.

Ist die erste Hürde, der Gang zur Polizei, genommen, steht schon die nächste im Weg: Es dauert. „Jetzt hat die Frau endlich den Weg zur Polizei geschafft – und dann passiert erstmal gar nichts“, bedauert Heike Clephas. Oft gehe ein Jahr ins Land, bis ein Prozess beginnt. Denn in den Gerichten stapeln sich die Akten, und Vorrang haben Verfahren gegen Beschuldigte, die in Untersuchungshaft sitzen.

Wer wo sitzt, zeigt Heike Clephas gerne an einem Modell in ihrem Büro. Foto: Gunnar A. Pier

Begleiter bereiten Frauen auf Aussage vor

Wenn es endlich zum Prozess kommt, bereiten Begleiter wie Heike Clephas die Zeuginnen auf ihre Aussage vor. Das beginnt schon bei vermeintlich kleinen Dingen: Wer sitzt wo im Gerichtssaal, wer darf wann etwas sagen, und muss man den Richter wie im Fernsehen „Euer Ehren“ nennen? Clephas gibt viele Tipps, warnt etwa vor Blickkontakt zum Angeklagten.

Psychosoziale Prozessbegleitung

Im Landgerichtsgebäude wartet sie zusammen mit den Frauen und ihren Rechtsbeiständen häufig im Anwaltszimmer, einem abgeschirmten Besprechungsraum. So werden unliebsame Begegnungen auf dem Flur mit anderen Prozessbeteiligten und Zuschauern vermieden. „Die Justizwachtmeisterei schreibt Opferschutz groß“, ist sie erleichtert. Die Ordnungskräfte seien stets kooperativ und helfen dabei, den Zeuginnen ihren Auftritt so wenig belastend wie möglich zu machen.

Im Landgericht Münster geht Heike Clephas ein und aus. Deshalb kann die psychosoziale Prozessbegleiterin geladene Zeugen darauf vorbereiten, was sie erwartet – und ihnen im besten Fall die Nervosität nehmen. Foto: Gunnar A. Pier

Vernehmung lässt sich nicht vermeiden

Die Vernehmung an sich lässt sich freilich nicht vermeiden, mitunter dauert sie mehrere Stunden. Aber immer häufiger müssen sich Opfer und mutmaßlicher Täter dabei nicht direkt begegnen: Im Landgericht und manchen Amtsgerichten gibt es die Möglichkeit, Beteiligte per Video in den Gerichtssaal zu schalten. „Das ist für die Zeuginnen viel einfacher“, sagt Clephas.

Nach einer Vernehmung ist ein Prozess für die Zeugen in der Regel erledigt. Dann müssen sie wieder warten, bis die Vorwürfe aufgeklärt sind und ein Urteil gesprochen wird. Wochen, manchmal Monate dauert das. Mitunter wohnen Opfer und Tatverdächtiger derweil noch in einer Wohnung. „Das muss man sich mal vorstellen“, ist Clephas entsetzt. Doch sie bleibt dabei: Eine Anzeige ist richtig und wichtig. Auch, wenn der erste Schritt der schwierigste ist.

Weitere Informationen rund um unseren Themenschwerpunkt zu sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt gegen Frauen finden Sie auf unserer Special-Seite. Und unter folgendem Link steht das gesamte WN-Angebot vier Wochen kostenfrei zur Verfügung: wn.de/digitalbasis

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