Sexualisierte Gewalt
„Wir wollen den Opfern helfen“: Warum jede Strafanzeige wichtig ist
Münster
Von ihrem eigenen Freund wird Esther Westermann vergewaltigt. Tags darauf geht sie zur Polizei. Dieses – anonymisierte – Beispiel zeigt, was Frauen erwartet, die sexuelle Gewalt erleben, wenn sie eine Anzeige erstatten.
Esther Westermann wollte nach der schlimmsten Nacht ihres Lebens nicht sofort zur Polizei. Erst hat sie eine Freundin angerufen, dann hat sie sich doch entschieden, zur Polizei zu gehen. Das, was Frauen erwartet, die sexuelle Gewalt erleben, wenn sie eine Anzeige erstatten, soll dieses – anonymisierte – Beispiel zeigen. Grundlage des Textes sind Recherchen beim Kriminalkommissariat (KK) 12 des Polizeipräsidiums Münster und bei verschiedenen Frauenberatungsstellen im Münsterland.
Angenommen, Esther Westermann ist von ihrem Freund vergewaltigt worden. Sie kam nach Hause, war müde – er war aggressiv und wollte Sex. Als sie ihm sagte, dass sie allein bleiben möchte, vergewaltigte er sie. Am Morgen danach geht die 34-Jährige zur Polizei und landet bei den Expertinnen und Experten vom KK 12. Wäre sie mitten in der Nacht gekommen, hätte es sein können, dass ein Beamter aus einem fachfremden Kommissariat die Anzeige aufgenommen hätte. „Das kommt auf das Delikt an“, sagt Kriminalhauptkommissar Andreas Bode. „Liegt die Tat schon lange zurück, kann es sein, dass keine Spuren mehr vorhanden und mögliche Verletzungen verheilt sind“, erklärt Kriminalhauptkommissarin Viola Groß.
Aussagen der Frauen nicht infrage stellen
Ist die Tat erst vor wenigen Stunden passiert, kommt sie oder ein anderer Spezialist aus dem KK 12 dazu. Sie haben gelernt, wie man „trauma-sensibel“ mit Opfern umgeht, haben einen speziellen Raum, in den sie sich mit den Frauen zurückziehen und regeln die Spurensicherung. „Trauma-sensibel“ heißt, dass Polizistinnen Dinge sagen wie: „Schön, dass Sie sich gemeldet haben. Das werden jetzt die nächsten Schritte sein.“ – und nicht etwa die Aussage der Frau infrage stellen oder ihr gar eine Mitschuld geben („Was tragen Sie auch so einen kurzen Rock?“).
Kriminalhauptkommissarin und Opferschutzbeauftragte Cordula Mayer ist sich darüber im Klaren, „dass wir sehr intime Fragen stellen“ und die Betroffenen das Gefühl bekommen, viel mehr zu erzählen, als sie möchten. „Wir müssen nachvollziehen können, was geschehen ist. Auch wenn die Fragen für das Opfer nicht sinnvoll erscheinen.“ Noch vor wenigen Jahren seien die Frauen in erster Linie ein Beweismittel gewesen. „Da hat sich in den letzten Jahren viel verändert.“
„Strafrecht ist sehr an Täter-Rechten orientiert“
Gabriele van Stephaudt, Leiterin der Beratungsstelle „Frauen helfen Frauen“ in Beckum, erklärt, dass Opfer den Umgang mit ihnen nach der Tat oftmals schlimmer empfinden als die Vergewaltigung selbst. „Das Gefühl, infrage gestellt zu werden, offen geäußerte Zweifel an dem, was sie sagen, die Mitschuld, die ihnen gegeben wird, ist für Betroffene besonders schrecklich.“ Sie sagt: „Niemand sollte unmittelbar nach einer Tat fragen: 'Haben Sie etwa getrunken?' oder 'Warum waren Sie so spät auch noch allein unterwegs?'“ Sie erlebe Justiz „nur bedingt in Kenntnis über trauma-relevante Aspekte von Opferverhalten“, wie sie es sagt. Polizisten seien da schon weiter. Nicht nachvollziehbar sei für sie, auf welche Art und Weise im Gericht „manchmal Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger ihre Fragen stellen“. „Unser Strafrecht ist immer noch sehr an Täter-Rechten orientiert“, meint sie.
Die Beamten des KK 12 wissen, dass viele Frauen ihre Arbeit skeptisch sehen. Auch Esther Westermann fragt sich, was die Polizei mit ihrer Aussage macht. Sie muss sehr persönliche Dinge erzählen und fragt sich, ob sich das überhaupt lohnt. Groß sagt: „Ja. Wir wollen den Opfern helfen und die Tat aufklären. Dafür sind wir auf jedes Puzzleteil angewiesen. Vielleicht sind in einem anderen Fall Spuren vom gleichen Täter gesichert worden.“
Nur wenige Sexualstraftaten werden angezeigt
Die Beamtin des KK 12 weist darauf hin, dass jede Strafanzeige wichtig ist. Nur so könne die Polizei handeln. Oft denken Opfer, dass eine Anzeige keinen Erfolg verspreche, dabei „schöpft die Polizei immer alle rechtlichen Mittel aus, und das führt oft zum Erfolg“, sagt Groß. Die Zahlen einer Studie der Bundesregierung aus dem Jahr 2004 sprechen eine andere Sprache. Danach werden weniger als fünf Prozent der begangenen Sexualstraftaten in Deutschland angezeigt. Von 100 angezeigten Vergewaltigungen enden im Schnitt 13 mit einer Verurteilung. Andere Studien gehen noch von einer deutlich niedrigeren Quote aus.
Für eine Anzeige bleibt Frauen nach einer Vergewaltigung eine Fahrt in die Rechtsmedizin nicht erspart. Diese „Anonyme Spurensicherung“ sorgt dafür, dass etwa Sperma-Spuren und Verletzungen so dokumentiert werden, dass sie auch noch Jahre später vor Gericht Bestand haben. Das erlaubt Opfern, auch nach Jahren noch Anzeige zu erstatten. Deswegen ermuntern die Beamten Frauen, sich so schnell wie möglich bei der Polizei zu melden, damit sie die medizinischen Untersuchungen frühzeitig veranlassen kann. Frauenärzte können das nicht, selbst die Krankenhäuser im Münsterland sind darauf nur selten vorbereitet. „Die zeitnahe Spurensicherung und medizinische Untersuchung ist ein wichtiger Teil für die Ermittlungen“, sagt Bode.
Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit
Von der Persönlichkeit jeder einzelnen Frau hänge ab, wie sie die Übergriffe verarbeiten. „Vermeintlich einfache Berührungen an dem Gesäß können Frauen schon sehr belasten“, sagt Mayer. Dazu kommen Gefühle der Ohnmacht und der Hilflosigkeit. So fragt sich Esther Westermann: „Bin ich jetzt spießig?“ Mayer gibt ihr Selbstbewusstsein. „Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl. Wenn Sie denken: Hier stimmt was nicht, ich fühle mich unwohl, hier ist eine Grenze überschritten: Dann ist es Zeit, sich zu wehren.“
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