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„Tag der Muttersprache“

Wissenswertes über Mehrsprachigkeit 

Münster

Etwa ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler wächst mehrsprachig auf. Sprachwissenschaftler sehen darin eine Chance für unsere Gesellschaft. Denn Spracherwerb schärfe die Weltoffenheit. Zum „Tag der Muttersprache“ wirft die Redaktion einen Blick darauf.

Von Doerthe Rayen

Auf den deutschen Schulhöfen werden mehr als 100 Sprachen gesprochen. Foto: Colourbox

Mehrsprachigkeit gehört in Deutschland zur Realität vieler Familien. Immer mehr Kinder und Jugendliche wachsen mehrsprachig auf. Wie viele Personen das genau betrifft, wird statistisch nicht erfasst. Das Leibniz-Institut für deutsche Sprache hat zuletzt 2018 mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung eine repräsentative Spracherhebung durchgeführt. Danach haben 88 Prozent der Befragten Deutsch als Muttersprache ange­geben.

Häufige andere (Mutter)-Sprachen sind Russisch, Türkisch, Polnisch, Italienisch oder Englisch. Der Mikrozensus für 2021 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Danach haben 85 Prozent der Befragten angegeben, zu Hause nur oder überwiegend Deutsch zu sprechen. Bei Personen mit Migrationshintergrund ist das bei rund der Hälfte der Fall.

Muttersprache oder Erstsprache?

Die Frage nach der Muttersprache sei für multilinguale Menschen oftmals gar nicht so einfach zu beantworten, weiß Prof. Dr. Susanne Günthner vom Germanistischen Institut der Uni Münster. In der Wissenschaft werde seit rund zwei Jahrzehnten der Begriff „Erstsprache“ statt Muttersprache ­ favorisiert. Damit sei neutral die Sprache gemeint, die ein Kind ungesteuert ohne Unterricht zu Hause lernt und dort nutzt.

Diese Erstsprache sei in der Regel die familienbezogene Alltagssprache, die mit vielen Emotionen verbunden werde. In ihr werde beispielsweise geschimpft, erläutert die Expertin und macht einen Vergleich: „Wachsen Kinder mit Standarddeutsch und Dialekt auf, müssen sie lernen, in welchem Kontext sie welche Sprache nutzen: In formellen Situationen das Standarddeutsch, in informellen den Dialekt.“

Schweinsteigers Kinder wachsen dreisprachig auf

Der Begriff „Muttersprache“ wird in der Fachwelt als ungenau angesehen, weil er impliziere, dass die Mutter für den sprachlichen Input der Kinder verantwortlich sei. Dem liege ein traditionelles Familienbild zugrunde. Doch Familie sei heute viel komplexer – nicht zuletzt durch Migration und Zuwanderung. Sprechen Eltern eine Sprache, ist dies meist auch die Erstsprache für ihre Kinder.

Tag der Muttersprache

Aber welche Sprache ist Muttersprache, wenn Vater und Mutter verschiedene Sprachen sprechen? Dann ist das Kind bilingual und kann durchaus zwei Muttersprachen besitzen. Die Kinder von Ex-Fußballstar Bastian Schweinsteiger und seiner Frau Ana Ivanović werden dreisprachig groß: Sie lernen Deutsch – wie der Vater, der auch noch bayerischen Dialekt beherrscht. Serbisch – wie die Mutter. Gemeinsam unterhalten sie sich auf Englisch.

„Muttersprache und Erstsprache erfassen die vielfältigen Facetten des kindlichen Spracherwerbs nicht vollständig“, präzisiert Günthner und bilanziert: Muttersprache muss nicht zwingend die Sprache der Mutter sein. Sie kann auch die des Vaters oder der Großmutter sein. Mehrsprachige würden oft genug auch Deutsch als Muttersprache bezeichnen – weil sie darin denken, fühlen, träumen. Die Erstsprache bleibt ihre Familiensprache.

Rund 100 Sprachen auf Schulhöfen zu hören

Auf deutschen Schulhöfen sind nach Schätzungen des Duisburger Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache rund 100 Sprachen zu hören. Mehr als ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler spricht bei der Einschulung neben dem Deutschen noch mindestens eine weitere Sprache. Einige Bundesländer haben inzwischen Mehrsprachigkeitskonzepte entwickelt. Sie bieten herkunftssprachlichen Unterricht an.

Nordrhein-Westfalen ist in diesem Punkt Vorreiter und bietet ab der Grundschule Unterricht in 20 Sprachen an. Der findet meist nachmittags statt und ist nicht versetzungsrelevant. Die Forschung diskutiert inzwischen, ob diese Lektionen als Fremdsprachen geöffnet werden sollten – wahlweise für alle Schülerinnen und Schüler ohne entsprechend von zu Hause mitgebrachte Sprachkenntnisse. „Da ist noch viel Luft nach oben, um Mehrsprachigkeit im Unterricht zu fördern“, erklärt Dr. Helena Olfert, Akademische Rätin am Centrum für Mehrsprachigkeit und Spracherwerb der Uni Münster.

Mehrsprachigkeit verschafft Vorteile

In der Öffentlichkeit wird das Thema Mehrsprachigkeit oft und gern kontrovers diskutiert. Englisch in der Grundschule: Gut oder schlecht? Herkunftssprachlicher Unterricht: Sinnvoll oder unnötig? Volle Konzentration auf das Fach Deutsch für mehrsprachige Kinder: Richtig oder falsch? Kritikerinnen und Kritiker beurteilen Mehrsprachigkeit gern als Risikofaktor. Betroffene Kinder würden keine der Sprachen vollständig lernen. Das wirke sich negativ auf die schulischen Leistungen aus.

Prof. Dr. Susanne Günthner

„In der Sprachwissenschaft spricht man hierbei auch von doppelter Halbsprachigkeit“, erklärt Günthner und hält diese Sichtweise für veraltet. Untersuchungen haben längst gezeigt, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder gewisse kognitive Vorteile besitzen. „Unser Gehirn ist flexibel, wenn es früh trainiert wird“, sagt sie und argumentiert global: „Die Mehrheit der Menschen ist mehrsprachig. Wir können einen multi­linguistischen Booster in Deutschland gebrauchen.“

Sprache ist Identität und Emotion

Helena Olfert findet, dass monolinguale Kinder nicht als Vergleichsblaupause im Unterricht herhalten dürften. Es gehe am Ende um ein Miteinander. „Sprache ist mehr als Kommunikation. Sie ist Identität und Emotion.“ Über sie ließen sich Kulturen und Konzepte erschließen. Daher schärfe jeder Spracherwerb am Ende auch die Weltoffenheit in der Gesellschaft. Sicherlich seien gute Deutsch-Kenntnisse für den Bildungserfolg wesentlich. Helena Olfert will trotzdem weniger Defizite in den Vordergrund stellen, sondern über Mehrsprachigkeit und Sprachbildung reden.

Dr. Helena Olfert

Davon profitieren alle Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft. Susanne Günthner sieht Handlungsbedarf bei der Bewertung von Fremdsprachen. Sie sorgt sich darum, dass einige Sprachen ein niedriges soziales Ansehen haben und deshalb von Kindern und Eltern gemieden werden, andere dagegen als Prestigesprachen gelten. „Da müssen wir ansetzen: Sprachen generell sind spannend.“ Das erfolgreiche Erlernen von Sprachen hat für sie viel zu tun mit einem grundsätzlichen Interesse für Land und Leute. Wer Filme und Rapsongs verstehen möchte, sei am Ende motiviert, eine Sprache zu lernen. „Die Einstellung: ,Ich muss keine weiteren Fremdsprachen lernen, denn Englisch reicht aus’ finde ich respektlos den vielen anderen Sprachen gegenüber. Jede Sprache steht für eine Kultur und ermöglicht uns ein Eintauchen in diese Lebenswelten.“

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