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Radfahr-Boom

Digitalisierung und mehr Tempo-30-Zonen - ist das die Zukunft des Fahrrads?

Münster/Mannheim

Das Münsterland ist nach Bayern die zweitbeliebteste Radreiseregion Deutschlands, auch zur Arbeit schwingen sich immer mehr auf die Leeze. Radfahren boomt, aber die Behörden verschlafen den Trend, kritisiert der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC): Fahrradförderung sei mehr als das Aufmalen von bunten Streifen und Bildchen auf die Straße. Doch bald ist ohnehin Schluss mit Radfahren wie wir es kennen - meinen Experten. In Mannheim denken sie über neue Wege nach.

Mareike Katerkamp, mit dpa

Beim Nationalen Radverkehrskongress in Mannheim diskutieren Experten über Fördermöglichkeiten für Radfahrer. Foto: Colourbox.de

Schon jetzt sind in Münster nach Schätzungen der Stadt täglich 100.000 Menschen mit dem Rad unterwegs, rund 40 Prozent der Wege legen die Bewohner mit der Leeze zurück. Die Tendenz steigt. Doch wie sieht das Radfahren der Zukunft aus? Darüber diskutieren seit Montag Dutzende internationale Experten bei einem großen Kongress in Mannheim. Sie suchen nach Lösungen, damit im oft heiklen Miteinander von Autofahrern, Radlern und Fußgängern alles besser wird. Viel öfter Tempo 30 in der Stadt, frühere Verkehrserziehung für Kinder und eine stärkere Digitalisierung sind Kernforderungen von Experten - sie sollen im Autoland Deutschland die Lust aufs Radeln weiter erhöhen und die Zahl der Verkehrstoten senken.

Dafür sollen auch in Münster die Radschnellwege ausgebaut werden. Laut dem Entwurf für das Radverkehrskonzept 2025 soll es mehrere sogenannte Velo-Routen als Radschnellwege aus dem Umland in die City geben. Anlässlich der Mannheimer Tagung bekräftigt Norbert Barthle, Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, den Plan neuer Fahrradwege für Pendler. Der Bund will besondere Fahrradschnellwege für tägliche Fahrten etwa zur Arbeit, Schule oder Uni mit 25 Millionen Euro unterstützen - doch das Vorhaben ist umstritten. Der Bund der Steuerzahler kritisierte, es handele sich dabei um eine verfehlte Förderung. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) nannte den Schritt unzureichend. Barthle wies die Kritik zurück. „Die Investition ist ein sehr guter Weg, den Radverkehr weiter zu unterstützen“, sagte er am Montag. Schnellwege seien „kleine Fahrradautobahnen“ ohne Gegenverkehr und Ampel.

Innovative Projekte

Auf dem Kongress in Mannheim werden weitere Projekte vorgestellt, die auch der Radregion Münsterland neue Impulse geben könnten. Dazu zählen Fahrerassistenzsysteme für Elektrofahrräder, ein vollautomatisiertes Fahrradparkhaus und Lastenräder mit Brennstoffzellenantrieb.

„Es ist viel getan worden, um Platz für Radfahrende zu schaffen. Das ist gut so und fördert die gegenseitige Akzeptanz“, sagt Jürgen Gerlach von der Uni Wuppertal. Er stellt in Mannheim sein Projekt „Fresh Brains“ vor, für das Studenten aus Wuppertal und Breda (Niederlande) vier deutsche Kommunen - Wuppertal, Chemnitz, Kassel und Mönchengladbach - untersuchten. „Alle Städte haben positiv überrascht. Wuppertal ist noch keine Fahrradstadt - aber sie hat das Vorzeigeprojekt Nordbahntrasse, das extrem gut angenommen wird. Chemnitz und Kassel haben eine gute Radinfrastruktur. Und Mönchengladbach hat engagierte Bürger“, sagt Gerlach. Dies zeige, dass sich auch abseits klassischer Radfahrstädte wie Münster viel bewege.

Helm-Debatte

Auch das Thema Fahrradhelme war ein heißes Eisen beim Radverkehrskongress in Mannheim. Der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) warb in einer Rede mit Nachdruck für Radfahren mit Helm - und erntete auch Buhrufe. „Der Auto-Sicherheitsgurt war ebenfalls anfangs unbeliebt. Die Kritik am Helm ist oft ein Vorurteil“, reagierte Hermann. „Ich ärgere mich, dass ältere Menschen oft ohne Helm fahren und damit kein Vorbild sind“, meinte der Minister.

Förderung soll aber auch Menschen zugutekommen, die sich Räder nur leihen. „Wir wollen Mieträder aufstellen, wo sie gebraucht werden - und das zu effizienten Kosten beim Verteilservice“, sagt Michael Kraus von der MVGmeinRad aus Mainz. Der Schlüssel ist eine sogenannte Rebalancing App. Die Software zeigt etwa den jeweiligen Bedarf an Rädern an. In Münster funktioniert das Leihen der Fahrräder noch ohne App. Hier können sich Interessierte an verschiedenen Stellen Fahrräder leihen, unter anderem an den Radstationen am Hauptbahnhof sowie in den Münster Arkaden.

Doch Technik sei nur eine Seite der Medaille, unterstreicht auch Kraus: „Verkehrserziehung in der Gesellschaft ist eine Daueraufgabe - das Miteinander im Verkehr gelingt nur gemeinsam.“

Mit Elektro-Unterstützung auf die Hügel

Aufgrund der teilweise hügeligen Landschaft konnte Deutschland - etwa im Vergleich zu den Niederlanden - bisher nur bedingt ein Fahrradland sein, meint Björn Offermann vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Elektroräder wie E-Bikes und Pedelecs hätten dies verändert. „Nun sind wir - wie ich finde - auf einem guten Weg“, sagt Offermann, der in Mannheim Lastenräder mit Brennstoffzellenantrieb (FCREX) vorstellt. Pedelecs können damit größere Lasten transportieren, längere Distanzen mit höherem Tempo bewältigen sowie in hügeligen Regionen und bei niedrigeren Umgebungstemperaturen eingesetzt werden.

In der hiesigen Region erlebt das Fahrrad als Lastenrad ebenso eine Renaissance. In Münster etwa gibt es seit November 2015 das ehrenamtliche Projekt „Lasse“, bei dem kostenlos ein Lastenrad ausgeliehen werden kann. Auch Fahrradkuriere, Pizza- und Weinhändler greifen verstärkt auf Lastenräder zurück.

Reizthema Tempo 30

„Im internationalen Vergleich ist Deutschland sicher ein Fahrradland, wir haben aber noch viel Luft nach oben“, sagt Frederic Rudolph vom Wuppertal-Institut. Er leitet das „Flow“-Projekt, das Verkehrsfluss und Stauvermeidung analysiert. Rudolph plädiert unter anderem für möglichst viele Tempo-30-Zonen.

Ein Vorschlag, der in Münster schon zu hitzigen Diskussionen geführt hat. So möchte das schwarz-grüne Ratsbündnis auf einem Teilbereich der Hammer Straße versuchsweise Tempo 30 einführen. Außerdem soll es eine „Neuaufteilung des Straßenraumes“ geben, sprich: mehr Platz für Fahrräder, weniger für Autos.

Grundsätzlich sieht Forscher Rudolph Bedarf für mehr Rücksicht im Verkehr: „Das brächte mehr Sicherheit, von der besonders das Rad profitiert.“

Beliebt bei Fahrradtouristen

Fern der Städte nimmt das Radfahren ebenso stetig zu. „Im Berufs- und Alltagsverkehrs wird Deutschland noch längere Zeit Autoland bleiben, auch wenn sich erste Tendenzen zur Umorientierung erkennen lassen. Im Freizeitbereich ist Deutschland ganz eindeutig Fahrradland“, sagt Jannik Müller vom Verein Sauerland-Radwelt. Schon jetzt gebe es Tourismusregionen mit hochwertigen Angeboten. Der Kongress in Mannheim unterstreiche, dass das Potenzial längst nicht ausgeschöpft sei.

Auch ins Münsterland kommen immer mehr Touristen zum Fahrradfahren. Zum zweiten Mal in Folge ist das Münsterland nach Bayern in der Radreiseanalyse 2017 des ADFC als beliebteste Radregion ausgezeichnet worden.

Etwa elf Millionen Menschen treten täglich in die Pedale, schätzt der ADFC. Doch politische Mutlosigkeit und rein kosmetische Lösungen verhinderten, dass das Radfahren in Deutschland noch weiter vorankomme. 15 Prozent Radverkehrsanteil habe sich die Bundesregierung bis 2020 vorgenommen, er stagniere aber derzeit bei unter 12 Prozent. Zum Vergleich nennt der ADFC das Nachbarland Niederlande, wo der Anteil bei 27 Prozent liege.

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