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Umgang mit sexuellem Missbrauch

Ex-Generalvikar Werner Thissen räumt schwere Fehler ein

Münster

Mehr als 20 Jahre hatte Dr. Werner Thissen Personalverantwortung im Bistum Münster, zuletzt als Generalvikar und Weihbischof. In den Jahren hatte er mit vielen Fällen sexuellen Missbrauchs zu tun. Doch beim Umgang damit habe er viele Fehler gemacht, räumte er nun in einem Interview ein.

Dr. Werner Thissen räumte im Interview Fehler im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs ein. Foto: Michael Bönte / Kirche+Leben

Dr. Werner Thissen, emeritierter Erzbischof von Hamburg, hat im Interview mit der Kirchenzeitung „Kirche und Leben“ schwere Fehler im Umgang mit sexuellem Missbrauch aus seiner Zeit als Verantwortungsträger im Bistum Münster eingeräumt. Vor seiner Einführung als Erzbischof von Hamburg im Januar 2003 hatte Thissen mehr als 20 Jahre Personalverantwortung im Bistum Münster getragen. Von 1978 bis 1986 war er als Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Bischöflichen Generalvikariat in Münster für den Priester-Einsatz zuständig. Von 1986 bis 1999 war er Generalvikar und damit Stellvertreter des Bischofs. 1999 wurde er zum Weihbischof ernannt.

In dem Interview bezeichnet es Thissen als „großen Fehler“, dass er in seiner Zeit als ein Personalverantwortlicher im Bistum Münster „mit den Betroffenen kaum Kontakt“ gehabt habe. So habe er keine Vorstellung davon gehabt, „was für ein Schaden bei einem jungen Menschen angerichtet wird durch Missbrauch.“ Erst als Erzbischof von Hamburg, als er Betroffenen viele Stunden zugehört habe, sei ihm klar geworden, „was Missbrauch an Verletzungen und Schaden anrichtet.“ Von daher sei es ihm heute ein großes Anliegen, „das zu tun, was man jetzt tun kann: die Betroffenen hören, die Missbrauchsverbrechen offen legen, weil es für die Betroffenen sehr heilsam ist, zu spüren: Das ist nicht etwas, was wir jetzt auch noch verdrängen und geheim halten müssen, sondern etwas, worüber man sprechen kann. Wichtig finde ich auch, um Entschuldigung zu bitten.“

Für einen weiteren schweren persönlichen Fehler hält es Thissen, „dass mein Vertrauen in die medizinischen, therapeutischen Möglichkeiten überzogen und unrealistisch war.“ Der Fehler habe, das macht Thissen unmissverständlich deutlich, nicht bei dem inzwischen verstorbenen Therapeuten gelegen, sondern bei den Personalverantwortlichen: „Wir haben ihn (den Therapeuten, Red.) ausgenutzt. Wir haben das von uns weggeschoben auf ihn und dort, wo er sich zu viel drum kümmern musste, haben wir zu wenig getan.“

„Es fehlten jegliche Standards professioneller Personalführung.“

Thissen sieht es im Rückblick auch sehr kritisch, wie die Personalkonferenz im Bistum Münster früher tagte: „Es fehlten jegliche Standards professioneller Personalführung.“ Wenn ein Miss-brauchsfall mitgeteilt wurde, seien in der Regel alle Mitglieder der Personalkonferenz informiert worden. Dann sei besprochen worden, wer sich aus der Personalkonferenz in der jeweiligen Situation kümmern solle. Insgesamt sei das Thema des sexuellen Missbrauchs eher ein „Nischenthema“ gewesen, das die Mitglieder der Personalkonferenz schnell auf den Arzt und Therapeuten abgeschoben hätten.

Mitglieder der Personalkonferenz waren damals der Bischof, der den Vorsitz hatte, der Generalvikar, die fünf Weihbischöfe, der Personalreferent und der Regens des Priesterseminars. Es habe im System gelegen, so sagt Thissen, dass die Personalkonferenz für den Umgang mit Missbrauchsfällen zuständig gewesen sei. „Aber sie war dazu gar nicht in der Lage. Da hätten Fachleute dazu gehört.“ Vor allem hätte es nach seiner Ansicht „auch einer größeren Distanz zu den Tätern bedurft“. Werner Thissen: „Diejenigen, die des Missbrauchs beschuldigt wurden, waren ja Priester, die wir gut kannten. Da kommt sehr schnell der Mitleidseffekt auf. In einer Personalkonferenz fragte mal jemand: ‚Muss der Täter denn nicht bestraft werden?‘ Die übereinstimmende Meinung war: Der hat sich doch durch sein Vergehen am meisten schon selbst bestraft.“

1999 wurde Thissen in Münster zum Weihbischof geweiht. Zu den Gratulanten gehörten Bischof Reinhard Lettmann und Oberbürgermeisterin Marion Tüns. Foto: Jürgen Peperhowe

Kommunikation war nicht gut

Kritisch sieht der emeritierte Erzbischof auch die damalige Kommunikation: Die Öffentlichkeit sei nicht offiziell über die Fälle informiert worden; auch sei niemand auf den Gedanken gekommen, alle Verantwortungsträger in den Pfarreien zu informieren: „Wir sahen nicht, dass es klare Regeln zur Herstellung von Transparenz geben muss.“ Weder die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen, die heute selbstverständlich ist, noch Präventionsmaßnahmen seien im Blick gewesen.

Und da sexueller Missbrauch in der Öffentlichkeit und der Gesellschaft kein Thema gewesen sei, sei er auch in der Priesterausbildung „eher ein Randthema“ gewesen: „Natürlich hatte jeder zu wissen aus der Moraltheologie, wo Grenzen sind im Umgang mit anderen. Das wurde in der Priesterausbildung thematisiert, aber es war mehr ein theoretisches, abgehobenes Thema. Dass es diejenigen, die in der gemeinsamen Priesterausbildung am Tisch saßen, direkt betreffen könnte, wurde weniger thematisiert.“

Münsters Bischof Dr. Felix Genn Foto: Gunnar A. Pier

Bischof Genn dankt Thissen für seine offenen Worte

In einer Stellungnahme zu dem Interview betont der heutige Bischof von Münster, Dr. Felix Genn: „Betroffene sagen uns immer wieder, wie wichtig es für sie ist, zu erfahren, wer von den damaligen Verantwortungsträgern dafür zuständig war, dass die Taten sexuellen Miss-brauchs nicht an die Öffentlichkeit kamen und nicht unter Beachtung der Interessen der Betroffenen bearbeitet wurden, so dass Priester, die Kinder und Jugendliche missbraucht hatten, weiter als Priester tätig sein konnten. Indem das so geschah, wurde erst die Möglichkeit geschaffen, dass Priester weiter Kinder und Jugendliche missbrauchen konnten. Werner Thissen bekennt sich zu seinen Fehlern und zu seiner Verantwortung. Dafür bin ich ihm dankbar, weil ich hoffe, dass eine solche Verantwortungsübernahme für Betroffene hilfreich und ein wichtiges Signal sein kann.

Werner Thissen wirft ein ungeschminktes Licht darauf, wie die Verantwortungsträger im Bistum Münster damals entschieden haben. Dass dabei, wie es Werner Thissen selbst sagt, die Betroffenen nicht im Blick waren, bleibt für uns heute unverständlich. Meine Form der Entschuldigung bei den Betroffenen sexuellen Missbrauchs kann nur die sein, dass ich zusage, die Vergangenheit, soweit das überhaupt möglich ist, unabhängig von kirchlichen Instanzen aufarbeiten zu lassen. Hier hoffe ich, dass das Forschungsprojekt der Universität Münster Klarheit bringt – auch im Blick auf konkrete Fälle. Und ich sage zu, dass wir alles tun werden, um sexuellen Missbrauch künftig möglichst zu verhindern: Das beginnt damit, dass wir bei allen Maßnahmen die Interessen der Betroffenen in den Mittelpunkt stellen. Es betrifft dann die Priesterauswahl und -ausbildung. Zudem sind umfängliche Präventionsmaßnahmen erforderlich. Und schließlich muss es auch, wie ich das schon mehrfach gesagt habe, zu neuen Formen der Partizipation und zu einer Umverteilung von Macht und Einfluss in unserer Kirche kommen.“

Kommentar: Späte Einsichten

Der frühere Hamburger Erzbischof Werner Thissen zieht, auch unter öffentlichem Druck, selbstkritisch Zwischenbilanz. Als über viele Jahre für das Seelsorgepersonal im Bistum Münster verantwortlicher Kirchenmann ist er ebenso wie vermutlich jeder deutsche Bischof, Generalvikar oder Personalchef in den deutschen Bistümern vor 30, 40 oder 50 Jahren mit Fällen sexueller Gewalt durch Kleriker oder sonstige Kirchenbedienstete konfrontiert gewesen. Die Reaktionen, die dann einsetzten, kennt die Öffentlichkeit seit 2010 zur Genüge. Aus persönlicher Nähe mit den Tätern, aus Mitleid gar, aus Ahnungslosigkeit, vielleicht auch aus Angst vor einem Tabu-Thema oder verlogenem kirchlichen Korps-Geist heraus entstanden dann jene Mechanismen des Verdrängens und Vertuschens, die wir heute zu Recht mit aller Schärfe kritisieren. Verantwortlichkeiten wurden an Therapeuten und Kliniken abgeschoben, die Opfer kamen erst gar nicht in den Blick.

Diese Einsicht kommt in der Kirche, aber nicht nur dort, sondern in allen gesellschaftlichen Institutionen, ja auch in den Familien, dem Haupt-Tatort sexueller Gewalt, spät. Zu spät für die Opfer, die traumatisiert sind und jetzt endlich auf Anerkennung des Leids hoffen. Aber nicht zu spät dafür, aus der Einsicht für Prävention und Zukunft zu lernen. Sexuelle Gewalt in all ihren bösen Erscheinungsformen vom Menschenhandel bis zu pädophilen Dunkelmännern im Netz bleibt ein umfassendes Problem, das eine gesamtgesellschaftliche Antwort verlangt.

Johannes Loy

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