Ein Ort des Terrors und der Zuflucht
Im Eisenbahntunnel zitterten und bangten erst KZ-Häftlinge, dann die Bürger Lengerichs
Lengerich
Der alte Eisenbahntunnel in Lengerich hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Zunächst Zufluchtsort für Lengericher bei Bombenangriffen, bauten dort ab März 1944 KZ-Häftlinge Tragflächenprofile für Jagdbomber. Während der Befreiung Deutschlands versteckten sich dort 3000 Lengericher vor Bombenangriffen der Briten.
Wasser tropft von der Decke. An den Tunnelwänden hat es Kalkablagerungen hinterlassen. In den Pfützen am Boden spiegelt sich die Wintersonne. Fröstelnd treten die Besucher von einem Bein aufs andere. Früher sah es anders aus: Es gab einen Innenausbau aus roten Backsteinen. „Man brauchte einen trockenen und bis zu einem gewissen Grade beheizbaren Raum“, erklärt Thomas Köhler. Doch der Historiker vom Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster schiebt gleich hinterher: „Nicht wegen der Häftlinge, wegen der Maschinen.“
Der alte Eisenbahntunnel war von März 1944 bis kurz vor Kriegsende unter dem Tarnnamen „Rebhuhn“ eine Außenstelle des Konzentrationslagers Neuengamme bei Hamburg. An den Dreh- und Werkbänken mussten KZ-Häftlinge – Polen, Franzosen, Belgier, Ukrainer und auch Deutsche – Tragflächenprofile für Jagdbomber herstellen. Davor und danach suchten die Lengericher hier Schutz – vor Bomben und vor den Kämpfen in den letzten Kriegstagen.
Thomas Köhler
„Ein Ort des Terrors und ein Ort der Zuflucht zugleich“, fasst der Historiker die zwiespältige Geschichte der 765 Meter langen Röhre zusammen. Hier zitterten KZ-Häftlinge und später die Lengericher Zivilbevölkerung vor Kälte und Angst.
160 groß, blond, graublaue Augen – und das Geburtsjahr 1925 auf die linke Handfläche tätowiert: Alexander Jurtschenko war einer der KZ-Häftlinge, die aus Neuengamme nach Lengerich gebracht wurden.
Zwölf-Stunden-Schichten von sechs bis sechs tagsüber oder nachts. Auch geschlafen wird im Schichtbetrieb: Jeweils zwei Gefangene teilen sich einen Platz und eine Decke auf den Pritschen in der damaligen Gaststätte Brunsmann. Morgens ein Viertelliter „Morgenkaffee“ aus überbrühten Kartoffelschalen, eine dünne Scheibe Brot, etwas Margarine. Die gestreifte Häftlingskleidung ständig feucht, die nackten Füße wund gescheuert in den Holzschuhen. Harte Arbeit, ständige Schläge ... So erinnert sich der ehemalige Häftling Robert B. später. „Im Außenlager galten dieselben Regeln wie im KZ selbst“, erklärt Köhler. „Für kleinste Vergehen gab es drakonische Strafen. Und die Essensrationen waren so ausgelegt, dass sie nicht zum dauerhaften Überleben reichten.“
Kaum verwunderlich, dass es Alexander Jurtschenko, Häftlingsnummer „Neuengamme 25979“ irgendwann nicht mehr aushielt. Am 12. April 1944 flüchtet er. Abgemagert, kahl geschoren und in Häftlingskleidung ist die Flucht von vornherein aussichtslos. Die Gestapo bringt den 19-Jährigen zurück zum Tunnel – zum Sterben. Am 19. April 1944 wird er hingerichtet. „Todesurteile wurden in der Regel zur Abschreckung vor versammelter Mannschaft am Kran vor dem Portal vollstreckt“, Köhler weist zum Tunnelausgang. „Wir wissen von 14 Erhängungen.“ Rund ein Jahr gab es die KZ-Außenstelle. In dieser Zeit starben 21 der gut 200 Häftlinge. Die anderen wurden am 25. März 1945, in den letzten Wochen des Krieges, auf den Todesmarsch geschickt.
Thomas Köhler
Die Häftlinge waren kaum weg, da suchten die Lengericher in der Röhre Schutz vor den heranrückenden britischen Truppen. „Um Lengerich ist hart gekämpft worden, auf jeder Seite fielen etwa 30 Soldaten“, sagt Köhler. Unglaublicher Gestank schlägt den Briten entgegen, als sie den Tunnel erreichen, so erinnert sich der Major Philip Rogers später. 3000 Menschen haben dort Anfang April tagelang ausgeharrt. Im hinteren Teil haben Rotkreuzschwestern ein Lazarett eingerichtet. Major Rogers steigt auf eine Kiste, erklärt den Lengerichern, dass der Krieg für sie aus ist.
Einer der Verantwortlichen für die KZ-Außenstelle „Rebhuhn“, ein SS-Sturmscharführer, lebte noch über Jahrzehnte unweit des Tunnels in Lengerich, sagt Köhler: „Völlig unbehelligt.“
Die Geschichte des Tunnels in Lengerich
Schon beim Bau des Tunnels in Lengerich wurden Zwangsarbeiter eingesetzt: Kriegsgefangene aus dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 bauten die Innenverschalung des Eisenbahntunnels für die Strecke Münster-Osnabrück-Hamburg. 1928 machte ein neuer Tunnel das Bauwerk überflüssig. Im Zweiten Weltkrieg diente er als Bunker und KZ-Außenstelle. Die roten Backsteine, mit denen die KZ-Häftlinge ihre Werkstätten in die Röhre bauen mussten, sind heute aus dem Tunnel verschwunden – aber nicht aus Lengerich. Sie wurden beim Wiederaufbau in der Stadt eingesetzt, zum Beispiel im Feuerwehrhaus. Später wurde der Tunnel zeitweise als Schießstand genutzt. Als Erstes erforschten Ursula Wilm-Chemnitz und Norbert Ortgies seine Geschichte und veröffentlichten ein Buch „Tage im Tunnel“. Später kamen Forschungen der Historiker Dr. Sabine Kittel und Thomas Köhler hinzu. Inzwischen gibt es Überlegungen, den Ort in einen Erinnerungswanderweg einzubinden.
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