Der lange Arm der Terroristen
Jesiden aus dem Münsterland berichten von Gräueltaten
Münster
Als er von den Vergewaltigungen und Morden erzählen will, bricht Bareket Khorto Farec die Stimme. 85 Mitglieder hatte seine Familie im Frühling: Jetzt sind 45 von ihnen verschwunden – ermordet oder verschleppt von den Dschihadisten des Islamischen Staates (IS). Ein weit entfernter Krieg? Mitnichten, sagen Jesiden aus dem Münsterland und berichten von nächtlichen Anrufen der Terroristen.
Farec ist Jeside. Mit stockender Stimme berichtet er aus seiner alten Heimat Irak und den unermesslichen Grausamkeiten, die sich derzeit dort ereignen. Dann hält er sich die Hand vor Augen, als könne er so die Bilder fernhalten.
Farec und weitere christliche und eben jesidische Familien haben sich am Dienstag in Münster mit dem stellvertretenden Generalvikar des Bistums, Jochen Reidegeld, und dem stellvertretenden Vorsitzenden der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Weihbischof Dieter Geerlings, getroffen.
Der zeigte sich im Anschluss an das Gespräch erschüttert. Im Irak herrsche „eine Ausnahme-Situation“, sagt Geerlings, die Flüchtlinge seien dringend „auf humanitäre Hilfe angewiesen“. Und dann unterstützt auch er die geplanten Waffenlieferungen an kurdische IS-Gegner: „Wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, geht es darum, eine Schutzverantwortung für die Menschen zu übernehmen.“ Die Bundesregierung unternehme zu wenig, um die Terror-Organisation zu stoppen, kritisiert Geerlings.
Senden: Jesidisches Zentrum im Münsterland
Tags zuvor, früher Abend, Münster: Eine Stunde lang haben Ekrem Atalan und Necat Bozan bereits über die Gräuel im Irak berichtet. Dass Hunderttausende Jesiden auf der Flucht vor den Terrormilizen seien, die Dschihadisten zig Tausende getötet oder gefangen hätten und vor allem Frauen und Mädchen als Sklaven verkauft würden.
Atalan und Bozan leben in Senden. Dort existiert mit rund 180 Mitgliedern die größte jesidische Gemeinde im Münsterland.
Anruf von den Terroristen
Wer sind die Jesiden?
Die Jesiden sind eine religiöse Gruppe mit rund 800 000 Angehörigen, deren ursprüngliche Hauptsiedlungsgebiete im nördlichen Irak, in Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei liegen. Ihre Religion ist monotheistisch, beruht auf keiner heiligen Schrift und ist nicht missionierend. Die Mitgliedschaft ergibt sich durch Geburt, dabei müssen beide Elternteile jesidischer Abstammung sein. Eine Heirat von Jesiden mit Andersgläubigen hat den Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft zur Folge. Im Zentrum des jesidischen Glaubens stehen neben Gott mehrere Engel. Seit August 2014 führt der Vormarsch der IS-Terrorgruppe im Irak zu einer umfangreichen Flucht von Jesiden, weil sie von den Terroristen als „Ungläubige“ verfolgt werden.
„Wer glaubt, der Krieg im Irak sei weit weg, der irrt“, sagt Bozan. Die Terroristen hätten einen langen Arm, der reiche bis ins Münsterland. Und dann erzählt er die unglaubliche Geschichte von jesidischen Familien hier in der Region, die nachts regelmäßig Anrufe erhielten. Am anderen Ende der Leitung: Ihre gefangenen Angehörigen, die von den IS-Milizen gezwungen würden, ihren Ehepartnern, Eltern oder Geschwistern zu erzählen, was ihnen in der Gefangenschaft widerfahre. „Zurzeit sind wir ein weinendes Volk“, sagt Akram leise.
Es sind auch solche Erlebnisse, von denen Geerlings erfährt. Beispielsweise von Mahmud Karow Faisl aus Altenberge. Der erzählt unter anderem, dass seine betagte Mutter tagelang bei den Leichen ihrer Kinder, „meine Brüder und Schwestern“, gesessen habe, die sie nicht beerdigen konnte. Unfassbare Ereignisse, die traurig und wütend zugleich machen.
Das Leid habe Gesichter bekommen, wird der Weihbischof im Anschluss an die Gespräche sagen. Und auch wenn er später betont: „Wir können nicht warten, bis die Vereinten Nationen Maßnahmen ergreifen“: Geerlings weiß natürlich, dass die Möglichkeiten der Kirche gering sind. Dennoch will er den engen Spielraum nutzen. „Wir werden versuchen, auf die Politik Einfluss zu nehmen“, sagt er. Auch dahingehend, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aus dem Irak aufnimmt.
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