Cannabis auf Rezept
Krank statt kriminell
Münsterland
17 Jahre war Frank Richter zugedröhnt. "Ich habe in einer Nebelwolke gelebt", sagt der 49-Jährige, der in Wirklichkeit anders heißt. Richter ist psychisch-krank, hat seit der Diagnose rund zwei Jahre in Psychiatrien gelebt und zum Schluss täglich einen Cocktail aus Psychopharmaka, Diazepam, Tranquilizern und Anti-Depressiva geschluckt.
"Ich wollte aus dem Loch heraus", erzählt er und ließ sich deswegen auf den Vorschlag ein, es mit Kiffen zu probieren. "Ich habe das aus wirklicher Verzweiflung getan," sagt er heute. "Und ich war erstaunt." Damals hat er sich entschieden, die Medizin nicht länger zu nehmen, sondern es mit einer Droge zu versuchen. Er wurde kriminell, um gesund zu werden.
So wie Richter geht es vielen. Patienten mit MS, ADHS, Spastiken oder chronischen Schmerzen machen die Erfahrung, dass es ihnen mit Cannabis besser geht. Ein neues Gesetz, das vor einer Woche in Kraft getreten ist, erlaubt es ihnen, den Stoff in der Apotheke zu bekommen.
Das wird das Leben des Münsterländers deutlich leichter machen. "Endlich wieder Patient, endlich kein Krimineller mehr", sagt Richter. Die 320 Euro, die sich der Frührentner jeden Monat für den Dealer zusammenspart, zahlt demnächst wohl die Krankenkasse.
Neues Gesetz als Balance-Akt
Richter hat sich beraten lassen, hat nicht nur Bücher gelesen und im Internet geforscht, sondern sich an seine Hausärztin und Suchtberater gewandt. "Glauben Sie, dass Ihnen ein Arzt einfach so einen Flyer in die Hand drückt, wie man sich mit Cannabis am besten selbst therapieren kann?", fragt er.
Nein. Dr. Thomas Poehlke aus Münster ist einer der wenigen Ärzte im Münsterland, der Patienten bestätigt, dass ihnen Cannabis helfen kann. Für ihn bedeutet das neue Gesetz vor allem einen Balance-Akt: Wie lange muss ein Patient schon Medikamente benutzen, die sich als unwirksam entpuppen, bevor er Cannabis verschreiben kann?
Bundesgesundheitsministerium: Gesetzentwurf der Bundesregierung zu Cannabis als Medizin
Bundesopiumstelle: Fragen und Antworten der Bundesopiumstelle zu Cannabis
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie: Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie zu Cannabis
Factsheet: Cannabis als Medizin
"Die Grenze ist ganz schwer zu ziehen", erklärt er. "Es gibt eine Vielzahl adäquater Medikationen. Cannabinoide können eine Ergänzung sein, oder sie sind bei schwer therapierbaren Erkrankung eine erfolgversprechende Alternative", sagt er. Klar sei, dass sie "sehr vorsichtig und umsichtig verordnet werden müssen". Patienten, die für so eine Behandlung in Frage kommen, brächten erfahrungsgemäß "bergeweise" Vorbefunde mit, die langjährige, zum Teil schwere Krankheitsverläufe dokumentieren.
Es geht nicht um den Rausch
Seinen Patienten gehe es ohnehin nicht um einen Rausch, sondern um Entspannung, um den Wunsch, "nachts mal durchschlafen zu können". Dass Patienten mit dem Kiffen anfangen und gar nicht mehr damit aufhören, erlebt er nicht. Poehlke sieht mit dem neuen Gesetz auch keine Flut von Cannabis-Rezepten auf die Krankenkassen zukommen.
Zurzeit haben 1020 Menschen in Deutschland die Erlaubnis, Cannabis als Medizin zu benutzen. Mit einer Ausnahmeerlaubnis in Form eines Stempels gingen seine Patienten bisher in die Apotheke und erhielten ihr Wunsch-Cannabis.
Zahlen mussten sie das selber. Dass das neue Gesetz Ärzte veranlasst, mehr Cannabis zu verschreiben, sieht Poehlke nicht. Zum einen, weil es keinen wissenschaftlichen Nachweis für den Nutzen gebe, zum anderen, weil Cannabis noch immer der Schmuddelfaktor anhänge. Auch Richter hatte jahrelang Kontakt mit einem Dealer, musste mit dem Stoff experimentieren. "Am Anfang war das eine völlige Katastrophe", berichtet er. Die ersten Selbstversuche endeten zwei Mal in einer Klinik, weil er zusammenbrach.
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Teilnahme am Familienleben wieder möglich
Heute weiß er, was er braucht: Er dreht in vier selbst gedrehte Zigaretten pro Tag ein Viertel seiner täglichen Ration von 0,65 Gramm hinein. Mehr kann er sich nicht leisten. Finanziell lebt er zwar "auf der letzten Rille", aber er hat sich nach und nach erholt. Die Konzentration ist zurückgekehrt, er hat abgenommen, kann wieder am Familienleben teilnehmen.
Jetzt walkt er viel, fährt Rad, ist viel in der Natur, um "am Ball zu bleiben". Nebenbei führt er den Haushalt in der tipptopp gepflegten Wohnung, während seine Frau arbeitet, – alles Dinge, die für ihn unter Psychopharmaka undenkbar waren. Die Zeiten sind vorbei, in denen er in den Tag hineinlebt. Bedröhnt ist er schon lange nicht mehr.
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