Vor 80 Jahren wurde die „Enschedesch’ Opera- en Operette-Gezelschap“ (E.O.O.G) gegründet
Erinnern oder vergessen?
Gronau
Vor 80 Jahren, am 21. September 1935, wurde in Enschede die „Enschedesch’ Opera- en Operette-Gezelschap“ (E.O.O.G.) gegründet, eine private Vereinigung mit hoch gesteckten Zielen – und einem abrupten Ende. Auch Gronauer Musiker hatten daran ihren Anteil, die Gründungsurkunde zeigt bekannte Namen wie Stroink, Dragstra und Klose.
Die E.O.O.G. war mit ihrer komplexen Struktur der Höhe- und Endpunkt der kulturellen Aufbauarbeit seit Beginn der Weimarer Republik in Gronau. Die zahlreichen Gronauer Unterhaltungsensembles fanden sich seit den 1920er-Jahren zu besonderen Anlässen zum „Gronauer Konzertorchester“ zusammen, nicht zuletzt, um sich Verdienstmöglichkeiten zu sichern. Gemeinsam mit Musikern aus Enschede entstand daraus das Opern- und Operettenorchester der E.O.O.G. Sänger und Schauspieler für die Aufführung stellte auch der Theaterkreis der Gronauer „Gesellschaft Erholung“. Außerdem leistete man beharrlich Aufbauarbeit und gab jungen Musikern eine Chance.
Die E.O.O.G. unter ihrem Dirigenten Pieter Herfst (1887-1960)
setzte innerhalb von drei Jahren fünf große Projekte um: eine Oper und vier Operetten, davon eine, die in Gronau entstanden war. Als „einzigartig“ in den Niederlanden rühmte Pieter Herfst seine Operettengesellschaft. Im Rückblick kann man nur staunen, wie die beträchtlichen Geldsummen zusammenkamen und welches künstlerische Können man auf lokaler Ebene, in gegenseitiger Hilfe zu bieten hatte. „Wir haben damals schon Euregio gehabt in Gronau“, betonte Alfred Dragstra (1923-2003) im Jahr 1986 gegenüber dem WDR. Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Reichskulturkammer und der Einmarsch der Deutschen in den Niederlanden im Jahr 1940 verhinderten allerdings weitere Aufführungen, zerstörten die private deutsch-niederländische Kulturkooperation.
Der Gründungsort, das Café „Nieuwlustpark“, irgendwo neben dem Museum „Twentse Welle“ gelegen, ist überbaut worden, heute verschwunden und vergessen. Wird es der E.O.O.G. ebenso gehen? Oder gehört sie auf ihre Weise zur Stadtgeschichte und Identität Gronaus (und Enschedes)? Die Erinnerung an die „Amateuroperette“ der Jahre 1928-1938 ist nach Fred Bredschneyder auch eine Erinnerung, wie in den Niederlanden auf wirtschaftliche Krisenjahre durch Eigeninitiative und „Kultur von unten“ reagiert wurde. Auf der deutschen Seite der Grenzregion wandelte sich die Operette nach 1933 allerdings zur „Operette unterm Hakenkreuz“ (Wolfgang Schaller). 1935, im Grün-dungsjahr der E.O.O.G., wurde der Jazz aus dem Radio verbannt, wurden die „Comedian Harmonists“ verboten. Aus ideologischen Gründen hatten die Nationalsozialisten die Spielpläne der Theater zusammengestrichen. Die „jüdischen Bestandteile“ sollten „restlos ausgemerzt“ werden, wie es in einem Brief des Reichsdramaturgen Schlösser von 1934 heißt. Mit den noch verbliebenen Werken (Schlösser spricht von zehn Prozent des Repertoires) konnten aber keine Theaterprogramme mehr gestaltet werden, deshalb war man dringend auf der Suche nach einem Ersatz. Dies war die Chance für den Gronauer Fabrikanten Joachim von Ostau (1902-1969), der eine Operette unter dem Titel „Insel der Träume“ textete und von dem jungen Komponisten Hans-Martin Ma-jewski (1911-1997) vertonen ließ. Die E.O.O.G. brachte 1938 dieses Werk in Gronau auf die Bühne.
Zwei Jahre zuvor hatte sie sogar noch eine Operette von Jean Gilbert (1879-1942), einem jüdischen Berliner Komponisten aufgeführt, allerdings nur in Enschede. Gounod und Johann Strauß waren aus staatlicher Sicht genehm, Majewski ein unbelasteter Debütant auf dem Gebiet der Operette. Für eine begrenzte Zeit ließ man die E.O.O.G. auf deutschem Boden gewähren.
Die Erinnerung an die eigenwilligste Produktion der E.O.O.G., die „Insel der Träume“, ist eine an die „starken Frauen“ der Weimarer Zeit, den Beginn der Rekordfliegerei und den Bau erster Flughäfen, an Inselträume und Liebeleien. Musikalisch geht es um eingängige Melodien und vorsichtige Jazz-Anklänge. Diese späte Operette will „anders“ sein, sie ist deshalb modern, der Technik und dem Tanz, vor allem dem Foxtrott, verpflichtet. „Insel der Träume“ ist insofern unter den Bedingungen des Nationalsozialismus entstanden, doch NS-Kunst ist sie weder vom Inhalt noch von der Musik her. Das Frauenbild der Operette und ihre Handlung sorgen heute vielleicht für ein ironisches Lächeln, geschätzt wird nach wie vor aber Majewskis Vertonung.
Unbequem wird die Erinnerung an die E.O.O.G., wenn man sich die Auftritte dieses demokratisch verfassten, niederländischen Vereins in Gronau, unter den Bedingungen der Diktatur ansieht. Die meisten der deutschen Honoratioren und Clubmitglieder, nicht nur Joachim von Ostau, waren politisch involviert, die nationalsozialistische Kulturpolitik funktionalisierte die Operette zum glanzvollen Aushängeschild und zum propagandistisch-heiteren Mittel einer neuen Volksgemeinschaft. Dieser Zeitkontext zwingt zu einer genauen historischen Untersuchung. Kompetente Fachleute von außen gäbe es dafür genug. Von Christoph Schmidt liegt bereits eine Untersuchung über die Kulturpolitik im Gau Westfalen-Nord vor, Gronau wird dort aber nicht berücksichtigt. Wären die Lücken der Forschung erst einmal gefüllt, könnte neu über den Umgang mit dem Vergangenen nachgedacht werden. Interessant wäre auch die Klärung der Frage nach der behaupteten „Einzigartigkeit“ der E.O.O.G. im Grenzverlauf zwischen Aachen und Nordhorn.
Den Krieg und die Nachkriegszeit haben aber nicht nur Fotos, Noten und Erzählungen überdauert: Das Apollo-Theater, in dem die E.O.O.G. 1937/38 auftrat, steht noch, es ist eines der am längsten bespielten Kinos in Deutschland – und insofern ein Glücksfall für Gronau. Und in der „Villa Langenberg“, früher einmal Hotel Horstmöller oder van Hauten, verdienten Gronauer Musiker ihr Geld. Von dort aus könnte sich der Retro-Blick noch einmal auf die Musikszene der 1920er- und 1930er-Jahre weiten: auf die beiden Konzertcafés, die Gronau zu bieten hatte, auf die vielfältige lokale Unterhaltungsmusik, die durch Kinopianisten, Klaviertrios und (Jazz-)Kombinationsorchester bestritten wurde, auf Feiern und Feiertage, die durch Klänge des städtischen Sinfonieorchesters (oder Streichquartetts) begleitet wurden – und letztlich auch auf die funktionierende deutsch-niederländische Regionalkultur. Mit der gebotenen Differenzierung und Nüchternheit wäre „Alt-Gronau“ vielleicht ein interessanter Stoff. Das Jubiläum der E.O.O.G. erinnert daran. Zumindest vorsichtig.
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