Entschleunigung der Inklusion
„Macht Inklusion nicht zum Strohfeuer“
Gronau
Bei seinem Vortrag im Gronauer WZG entschleunigt Prof. Klaus Dörner das viel diskutierte Thema Inklusion und verrät, wieso es noch 150 Jahre dauern könnte, bis die Ziele verwirklicht werden.
Das Westmünsterland habe deutschlandweit das dichteste Netzwerk an inklusionsfördernden Einrichtung, ist sich Prof. Klaus Dörner sicher. Und er muss es wissen. Der 80-jährige Psychiater und Fachbuchautor hat auf rund 3000 Reisen durch die Republik eine Vielzahl von Institutionen und Netzwerken zur Inklusion psychisch kranker, dementer und alterspflegebedürftige Menschen kennengelernt.
Weniger ging es in seinem Vortrag um die aktuell viel diskutierte Inklusion an Schulen – mehr um gesamtgesellschaftliche Konzepte. Der Experte sieht die Inklusion dabei als sozial-räumliches Konzept, bei dem alle – Menschen mit und ohne Behinderung – sich „bewegen“ müssten, um eine Gemeinde oder Nachbarschaft „inklusiv zu kultivieren“. Dörner weiß, dass das nicht von heute auf morgen gelingen kann. „Machen sie aus der Inklusion kein Strohfeuer“, warnt er daher vor zu hohen Erwartungen und vorzeitigem Scheitern und rät stattdessen, den Inklusionsbegriff in einem langfristigen historischen Kontext zu betrachten. Zuviel sei in den letzten 150 Jahren falsch gelaufen. Versäumnisse und Fehlentwicklungen auszugleichen könne durchaus weitere 150 Jahre dauern.
Trends der Industrialisierung umkehren
Konkret müssten drei Trends der Industrialisierung mühsam wieder rückgängig gemacht werden. Erstens: Die Ausgrenzung psychisch Kranker (weg von Angehörigen) und ihre Einschließung in große Institutionen. Zweitens: Die Professionalisierung der Hilfsleistungen und die damit Einhergehende Entlastung von Angehörigen, Bürgern und Nachbarn. („Solange Menschen von Profis umzingelt sind, sind sie nicht integriert.“) Und drittens: Die Medizinisierung der Psychiatrie, das Übertragen medizinischer Verfahren körperlicher Krankheiten auf seelische Leiden.
Prof. Klaus Dörner
Insgesamt seien die Bürger seit Bismarks Einführung der Sozialversicherung geneigt zu glaube, je mehr von oben komme, desto weniger sei von unten, von ihnen selbst also, nötig. Vor allem in Bezug auf Inklusion müsse hier ein Umdenken stattfinden.
Gelingen könne dies über den Weg einer Deinstitutionalisierung und einer „trialogische Kultur“, bei der Professionelle, Angehörige und Psychiatrie-Erfahrene zusammenarbeiten. Dörner: „Objekte der Behandlung werden zu Subjekten gemeinsamen Handelns.“
Glücklicherweise beobachte er seit den 1980er Jahren einen Trend der zunehmenden „Helfensbedürftigkeit“ von Bürgern, Fremde freiwillig zu unterstützen; so etwa in der Hospizbewegung.
Dankbarkeit für die Versäumnisse der Politik
Für die Versäumnisse der Politik in diesem Bereich ist Dörner sogar dankbar. Nur so hätte ein „freies Feld“ für die vielfältigen Wege und Netzwerke bürgerlichen Engagements entstehen können. Natürlich seien die Fernziele der Inklusion (ein Schulsystem, ein Wohnviertel und ein Arbeitsmarkt für alle) utopisch. Doch das müssten sie auch sein, um zumindest Teilerfolge zu erzielen.
Den Netzwerken im Kreis Borken riet er abschließend, noch mehr Ehrenamtliche zu aktivieren, psychisch Kranke selbst zu „Genesungshelfern“ zu qualifizieren und mehr Bürger für die Unterstützung altersdementer Menschen und deren Wünsche zu sensibilisieren.
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