Christoph Thiemann las Gruselgeschichten
Nerven der Zuhörer zum Zerreißen gespannt
Gronau
Ausgerechnet zum schwarzen Freitag, den 13., hatte der Schauspieler und Kabarettist Christoph Tiemann mit unheimlichen literarischen Geschichten zum Gruseln und Schaudern in die Stadtbücherei geladen. Seine Absicht: zu rezitieren, „bis das Blut gefriert“.
Dunkelheit umhüllt das Publikum, Dunkelheit verstärkt Angst. Allein flackernde Kerzen und ein Leselicht erhellen die Szenerie auf dem Podium: Tiemann, auch bekannt als Kneipen-Tester aus der WDR-Lokalzeit, liest vor. Nein, er rezitiert und spielt. Dabei hält er ein Blatt Papier in der Hand, ballt die andere zur Faust, klopft auf den Tisch oder legt den Zeigefinger auf die Lippen. Allein durch wechselnde Stimmlage wird Christoph Tiemann zu Charles Dickens verängstigtem Bahnwärter, zum wahnsinnigen Mörder bei Edgar Allan Poe, zur liebreizenden Wirtin, die Autor Roald Dahl junge Männer in ihre Pension locken lässt. Nicht einen Moment verlässt er dabei seinen Platz.
„Vorlesen ist eine ganz besondere Kunstform“, sagt Tiemann, der als Sprecher ausgebildet ist und aus Leidenschaft vorliest. Oft auf Lesertour aus seinem eigenen Buch oder im Ensemble mit Kollegen als die „Drei Fragezeichen“, sind die Gruselgeschichten eine andere Spezies. „Hier deute ich Vieles nur an, der Rest entsteht in den Köpfen des Publikums.“ Musikalisch begleitet wird der Münsteraner von Till Backhaus, „der an den Tasten des Keyboards sitzt und Sie von da aus erschreckt“, warnt Tiemann die Zuhörer. Und ja, die leisen Untertöne untermalen die Storys eindringlich. Das Nahen eines Zuges, das Pfeifen des Signalhorns, der trotzig klopfende Herzschlag eines Toten, was dessen Mörder zum Geständnis treibt – „die Musik verstärkt die Gefühlsebene des Publikums wie ein Regler am Radio um ein Vielfaches“, so Backhaus.
Die Zuhörer lauschen gebannt – mucksmäuschenstill – und kalte Schauer laufen über ihre Rücken. Tiemanns Worte erschaffen Kino im Kopf: Da steht er, der alte Bahnwärter, und fürchtet sich vor der unheimlichen Gestalt, dessen Gesicht er nicht erkennen kann und der ihn warnt: „Vorsicht! Vorsicht!“ Beinahe greifbar die Nebelschwaden und das ferne Pfeifen eines Zuges, mit dem das Unglück naht. Pausen, warten, Stille bis zum nächsten Satz steigern die Spannung ins Unerträgliche. Oder der Henker, der das, was er tut, nicht beim wahren Namen nennen mag und sich vor der Wahrheit fürchtet: „Genießt du, was du tust?“ Henry Slesars Geschichte endet mit einer bösen Pointe. Christoph Tiemann schlüpft in die Figuren wie in eine zweite Haut und erweckt sie zum Leben.
Süffisant gibt er die Geschichte eines Mordes wieder: Er flüstert diabolisch, er schreit verzweifelt, er lacht hinterhältig, er kichert bösartig. Tiemann wird es, spielt es, liest es – den Mörder. Das Opfer, ein alter Mann, wehrt sich im Todeskampf. Das wilde Schlagen seines Herzens verstummt. Auch das Keyboard schweigt. Doch auch breites Schmunzeln und erleichtertes Gelächter zaubert der Abend auf die Gesichter der Zuhörer: Für Robert Rankings skurrile Geschichte von „Kiste 23“ kündigt Tiemann ein dickes Augenzwinkern an, und zum Abschied warnt der Entertainer die Herren des Abends charmant vor harmlos wirkenden Damen mit gewissen Vorlieben.
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