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Gegen das Vergessen

Holocaust-Überlebende Erna de Vries spricht an der Sekundarschule über die Naziherrschaft

Schöppingen

Erna de Vries ist eine der letzten noch lebenden Juden, die die Gräuel der Naziherrschaft und die Vernichtungen in den Konzentrationslagern mit- und vor allem überlebt haben. Davon erzählte sie am Mittwoch an der Sekundarschule. Während dieses 45-minütigen Vortrages der zierlichen Dame war aus der Runde der jungen Zuhörer nicht ein Laut zu hören.

Susanne Menzel

Kaum ein Mucks war zu hören, als Erna de Vries von ihrem Leben während der Naziherrschaft erzählte. Später bat die Aktionsgruppe „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ sie, Ehrenpatin an der Schule zu werden. Mit Erfolg. Foto: Susanne Menzel

„Wer seine eigene Geschichte nicht kennt, kann seine Zukunft nicht aufbauen. Und das, was ihr heute aus erster Hand, aus dem Mund einer Zeitzeugin, erfahrt, ist greifbare Geschichte, die mehr sagt als ein Buch oder ein Bild“, hatte Lehrer Andreas Heilborn die Auschwitz-Überlebende Erna de Vries angekündigt. Und damit die Schülererwartungen sicherlich sehr hoch geschraubt. Er hatte nicht übertrieben, wie sich nach einer Stunde herausstellte. Denn während des 45-minütigen Vortrages der zierlichen, kleinen, älteren Dame war aus der Runde der jungen Zuhörer nicht ein Laut, nicht ein Mucks zu hören. Fast schon erschrocken reagierten sie beim Pausengong.

Erna de Vries, geboren 1923 in Kaiserslautern, ist eine der letzten noch lebenden Juden, die die Gräuel der Naziherrschaft und die mörderischen Vernichtungen in den Konzentrationslagern mit- und vor allem überlebt haben. Behütet als einziges Kind des evangelischen Spediteurs Jacob Korn und der jüdischen Mutter Jeanette aufgewachsen und im jüdischen Glauben erzogen, verlief die frühe Kindheit der jungen Erna recht sorglos. Dann starb 1931 der Vater, der Beschützer und Ernährer.

Die Mutter führte sein Unternehmen bis 1935 weiter. „Dann erhielt sie als Jüdin keine Lizenz mehr“, erzählt die 94-Jährige mit leiser Stimme. Jede Mark musste von nun an gespart werden. Kinder, mit denen sie früher gespielt hat, beschimpfen und bespucken sie, die Jüdin, plötzlich. Sie leidet darunter, fällt in der Schule ab. „Meiner Mutter habe ich meine Sorgen nicht anvertraut, sie hatte schon genug Kummer“, sagt Erna de Vries. Es folgen Schulwechsel, sie muss in eine Sonderklasse, die Situation spitzt sich im Land zu, die Nürnberger Gesetze werden erlassen. Die Nazihorden ziehen durch die Stadt, zertrümmern alles, was sie für jüdisch halten. Erna flüchtet mit ihrer Mutter und dem kleinen Neffen, der bei den Frauen untergebracht ist, auf den Friedhof, ans Grab des Vaters. Sie harren dort aus, „bis ich glaubte, dass alles vorbei sei.“

Die 94-Jährige erzählt ihre Geschichte an manchen Stellen so, als lese sie aus einem Buch vor. Unzählige Male hat sie sie schon vorgetragen. Doch immer wieder blitzen dann plötzlich ganz persönliche Emotionen auf. Verhalten, leise, aber spürbar. An den Stellen, wo die Seniorin sich noch genau „an den kalten, regnerischen Novembertag damals, an den Morgen nach der Pogromnacht“ erinnert. An die durchnässte Kleidung, den Nebel. Oder die zerschnittenen Polster, die sie bei der Rückkehr in die Wohnung vorfand. „Die rausgetretene Schrankrückwand, die zertretenen Spiegel, die kaputte Marmorplatte vom Waschtisch.“ Einzelheiten, die sich ihr ins Gehirn eingebrannt haben. Unsichtbar von außen. Sichtbar eingebrannt dagegen die KZ-Nummer, die sie in Auschwitz erhielt.

„Man wollte ursprünglich nur meine Mutter deportieren. Ich habe gebettelt und gefleht, mit zu dürfen. Solange, bis der Gestapo-Mann mich mitziehen ließ.“ Viele Namen der Menschen damals, die ihr im Guten als heimliche Helfer oder im Schlechten als NS-Schergen begegneten, sind ihr noch präsent.

Wie auch die Umstände, „dass wir uns bei der Ankunft im Lager komplett ausziehen mussten. Wir wurden rasiert und desinfiziert, bekamen ein Bündel Kleidung zugeworfen, das wir anziehen mussten. Ob es passte, oder nicht. Unsere eigenen Sachen – von Kleidung bis zur Brille – mussten wir abgeben.“

Was sie im Konzentrationslager erwartete, „das wusste ich. Obwohl Juden damals kein Radio mehr besitzen durften, hatte meine Mutter ihres behalten. Ich habe oft den sogenannten Feindsender BBC gehört. Da wurde über die Vernichtungslager berichtet“, erzählt sie. Im Lager mussten Mutter und Tochter in einem modrigen Tümpel Schilf sammeln.

Bei Erna Korn (später verheiratete de Vries) entzündeten sich dabei aufgekratzte Wanzenbisse an den Beinen. Sie kam ins Krankenlager („da überlebten die überflüssigen Fresser nicht lange“), sollte dann hingerichtet werden. Ein SS-Mann holte sie kurz vorher aus der Todesgruppe heraus. Sie kam als „jüdischer Mischling“ ins KZ Ravensbrück. Erna de Vries: „Es ist mir noch gelungen, mich von meiner Mutter zu verabschieden. Sie hat mir gesagt, ich würde überleben und erzählen, was man uns angetan hat.“ Jeanette Korn wurde am 8. November 1943 im KZ ermordet.

Erna Korn überlebte. Und erzählt seit vielen Jahren vor allem Schülerinnen und Schülern ihre Geschichte. Eine Geschichte, mit der Dr. Andreas Heilborn, wie er eingangs sagte, eine ganz private Hoffnung verbindet: „Dieses ‚nie wieder darf so etwas passieren‘, das meine Generation geprägt hat, ist leider in den letzten Jahren mehr und mehr abgeschwächt. Ich hoffe, dass wir es auch mit diesem Beitrag wiederbeleben können.“

Wer die gebannt lauschenden Sekundarschüler am Mittwoch bei dem Besuch von Erna de Vries erlebt hat, kann in diesem Punkt guter Hoffnung sein. Zumal die in Lathen lebende Bundesverdienstkreuzträgerin spontan einer Bitte der Aktionsgruppe „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ nachgekommen ist: Erna de Vries ist seit Mittwoch Ehrenpatin an der Schule.

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