Gebürtiger Ost-Berliner in der Haltestelle
Michael Naue macht Geschichte lebendig
Schöppingen
„Im Knast war nicht alles nur brutal. Es gab auch Zwischennuancen.“ Michael Naue blickt in die Runde der Jugendlichen, die gebannt an seinen Lippen hängen. Der 54-Jährige gebürtige Ost-Berliner ist für drei Tage zu Gast im Jugendheim Haltestelle
Dort berichtet er nicht nur aus seiner Jugendzeit im Honecker-Staat, sondern auch von seinem knapp eineinhalb-jährigen Gefängnis-Aufenthalt.
Nach einem gescheiterten Fluchtversuch im November 1983 hatte er es einen Monat später erneut probiert, war dabei von der Stasi geschnappt und wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“ zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Im Rahmen des Häftlingfreikaufs konnte er seine Zelle in Berlin-Hohenschönhausen mehr als ein Jahr früher verlassen.
Das Leben von Michael „Mischa“ Naue hat viele Facetten, wie er den jungen Menschen erzählt. Mit 14 flog er von der Schule, weil er damals schon mit staatlichen Autoritäten seine Schwierigkeiten hatte und immer wieder mit ihnen in Konflikt geraten war. Er schloss eine Lehre als Gleisbauer ab, später eine weitere als Sattler. Als 20-Jähriger dann sein Fluchtversuch. „Wir waren im Knast mit 24 Menschen in einer 23 Quadratmeter großen Zelle eingesperrt. Die Haare hat man sich in der Kloschüssel gewaschen“, sagt er. „Krass“, kommt der Kommentar der Jugendlichen. Sie sind von dem, was Naue erzählt, beeindruckt. Hören ihm gespannt zu. Kein Mucks ist zu hören. „Es ist schon krank, was da passiert ist“, meint der 16-jährige Justin.
Wictoria Baszczok, ebenfalls 16 Jahre jung, findet „es aber auch einfach interessant, mal von Betroffenen zu hören, wie die Zeit und das Leben damals in der DDR waren. Es ist eine Geschichte, die Geschichte unseres Landes. Wir sollten uns alle darüber Gedanken machen, wie die Leute früher gelebt haben“, betont sie. „Wir waren auch schon in Berlin und haben uns darüber hinaus KZs angesehen“, sagt Wictoria.
Aber auch Michael Naue ist beeindruckt von seinen Zuhörern: „Die Jugendlichen von heute kommen oft aus einer anderen Welt“, so seine Erfahrungen, die er häufig während seiner Führungen durch die ehemaligen Stasi-Gefängnisse und heutigen Gedenkstätten macht. „Aber mit meiner Geschichte hole ich fast alle von ihnen ab.“
Seine Geschichte geht noch weiter: Wieder in Freiheit, hat er zunächst überlegt, seine Knastzeit therapeutisch zu verarbeiten. Es aber dann doch gelassen: „Ein Arzt hat mir geraten, mich nur noch den schönen Dingen des Lebens zu widmen. Das sei der beste Weg, das Erlebte zu bewältigen.“
Michael Naue absolvierte eine Kochausbildung und unternahm zahlreiche Reisen. Dann ging er nach Japan, verschrieb sich dem Zen-Buddhismus und wurde dort nach sechs Jahren Priester. „Als mich meine Großmutter anrief und fragte, wann ich mal wieder nach Hause käme, bin ich zurück nach Berlin“, berichtet Naue. Seiner Oma hat er bis zu ihrem Tode mit 100 Jahren zur Seite gestanden.
Fotograf, Web-Designer und Streetfood-Verkäufer – der 54-Jährige hat viele Dinge ausprobiert. „Vor drei Jahren fragte man seitens der Gedenkstätte, ob ich zu einem Interview bereit wäre. War ich. Und im Anschluss bekam ich das Angebot, dort Führungen zu machen.“ Seitdem ist er vor allem mit Jugendlichen im Gespräch. Zwischendurch hat er seine Erlebnisse niedergeschrieben und als Buch aufgelegt. Auf einem Grundstück außerhalb Berlins hat er einen kleinen Garten samt Bienenhaus angelegt, will den sowie die Imkerei zukünftig weiter ausbauen.
Und er will mit den jungen Menschen in Kontakt bleiben, die seine Authentizität zu schätzen wissen. „Der spricht unsere Sprache. Auch wenn er älter ist“, sagen die Schöppinger Jugendlichen. „Geschichte bekommt bei ihm einen ganz anderen Sinn.“ Nicht nur die Geschichte, die Vergangenheit. Auch die Gegenwart. Michael Naues Lebenseinstellung hat für sie ebenfalls ihren Reiz. So steht der Sonntag im Zeichen aktueller Themen und Fragen. Wie ernähre ich mich ein wenig gesünder? Was bewirken Zucker und Weizenmehl in meinem Körper? Wie baue ich eigenes Gemüse an? Die Denkanstöße, die Michael Naue ihnen liefert, fallen vielleicht nicht bei allen, aber bei vielen auf fruchtbaren Boden. Michael Naue sagt kurz vor seiner Heimreise: „Ich kann sicherlich nicht jeden abholen. Aber wenn ich nur ein paar erreiche, habe ich schon was gewonnen.“
Startseite