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Der Chinesische Nationalcircus

Eine Show mit seinem Gefühl

Havixbeck

Eigentlich wollte der Chinesische Nationalcircus mit seiner neuen Show den Broadway ansteuern. Vielleicht spräche mittlerweile niemand mehr über die Weltklasseartisten, gäbe es nicht diesen Mann: Raoul Schoregge aus Havixbeck.

Annegret Schwegmann

Raoul Schoregge hat den Chinesischen Nationalcircus auch durch zwei Jahre Corona geführt. Foto: Gunnar A. Pier

Wie macht er das nur? Die elf Kilo schwere Vase hat er eben noch in seinen Händen gehalten. Jetzt thront sie auf seinem Kopf und schwankt nicht einmal. Zunächst mit dem bauchigen Porzellanrumpf auf dem kurz geschnittenen Haar, Sekunden später mit der Oberkante auf der Stirn.

Lin Wen Long schlendert dabei durch die alte Industriehalle in der Nähe des Havixbecker Bahnhofs, als warte er geduldig auf die Ankunft des nächsten Zuges – mit vor dem Oberkörper verschränkten Armen; dem Inbegriff der Lässigkeit. Hat Raoul Schoregge nicht eben ein moderates Aufwärmtraining angekündigt? Wenn das leicht sein soll, wie sieht das Bühnenprogramm dann in schwer übersetzt aus?

Wie sind diese Menschen wirklich?

Ein ganz normaler Vormittag im Leben von Raoul Schoregge. Im Büro hat er mit Saudi-Arabien telefoniert, gewissermaßen jedenfalls. Veranstaltungsmanager wollen ihn und die Artisten des Chinesischen Nationalcircus für eine Gala der besonderen Art buchen. Das könnte interessant für den Produzenten und Manager der chinesischen Artisten sein, der schon immer der Auffassung war, dass Kultur Brücken baut. Sein Circus beweist das seit Jahrzehnten.

Er war bereits in ganz Europa berühmt, als Schoregge ihn vor 22 Jahren von André Heller, dem Multitalent aus Österreich, übernahm. Der Wahl-Havixbecker war in seinem Metier kaum weniger bekannt. Als Clown hatte er in namhaften Artistik-Unternehmen und mit Oleg Popow zusammengearbeitet, der bis heute unbestrittenen Ikone in der Kunst, als Clown zu verzaubern. Schoregge ist ein neugieriger Mensch mit einer instinktiven Abscheu vor Stereotypen. „China wird gern als böse abgestempelt. Mich hat interessiert: Wie sind die Menschen wirklich?“

Der heute 53-Jährige lernte Hochleistungssportler kennen, die eine der härtesten Schulen der Akrobatik durchlaufen haben. „Die Artisten hebeln die Schwerkraft aus“, so nennt er es. Künstler, die auf einem Bein stehen, das andere parallel dazu in die Höhe strecken, darauf einen Kollegen balancieren lassen und mit den Händen Teller halten und Zeitschriften durchblättern – solche Menschen empfinden offenbar keine Gelenkschmerzen. Qing Qing Sun, die Choreographin seiner aktuellen Produktion, hat vor Jahren bei einer Operation auf die Narkose verzichtet, weil sie bei der Abendvorstellung nicht durch die Nachwirkungen einer Betäubung beeinträchtigt sein wollte. Als Kind ist sie zum Schlangenmädchen ausgebildet worden. Solch eine Artistin verleiht Biegsamkeit eine völlig neue Dimension.

Eine Show mit viel Gefühl

Schoregge arbeitet seit 22 Jahren mit chinesischen Kulturbehörden zusammen, hat den Circusnamen patentieren lassen und den Shows Gefühle eingehaucht. Seine neue Produktion „China Girl“ verbindet chinesische Spitzenakrobatik mit der Liebesgeschichte eines Mädchens aus der New Yorker Chinatown mit einem Jungen aus dem benachbarten Little Italy. „Wir wollten damit an den Broadway“, sagt der 53-Jährige und schaut Xiang Yang Wang zu, der auf einer Wippe steht und in die Schüsseln auf seinem Kopf Teller, Tassen und Besteck fallen lässt. Die Karten für die Premiere am 30. März 2020 in Prag waren in kurzer Zeit ausverkauft – der Rest ist tausendfach erlebter Kulturalltag in Corona-Zeiten. Keine Vorstellungen, kein Applaus, keine klar erkennbare Perspektive. Wäre Schoregge nicht gewesen . . .

Der Havixbecker mietete eine verlassene Produktionsstätte und Wohnungen für die Artisten und ermöglichte ihnen das tägliche Training. Es gelang ihm, den Chinesischen Nationalcircus nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Für den Herbst hat er 70 Vorstellungen in Europa geplant. Mit einem Ensemble, das zu einer Einheit verschmolzen ist. Menschen, die zwei Jahre lang zusammen wohnen, essen und proben, haben zwei Optionen: Sie kapitulieren – oder sie wachsen an der Situation.

Schoregges Team hat sich für Wachstum entschieden – und seine Disziplin bewahrt. Eine Schüssel trifft ­Xiang Yang Wang scharfkantig an der Wange. Der Athlet zuckt nur kurz zusammen und spricht dann lächelnd seine Lieblingsformel: „No problem“ . . .

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