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Kurdische Flüchtlingslager

Überleben mit gebrochenem Herzen

Diyarbakir

Soforthilfe und nachhaltige Projekte planen: Vertreter der Sendener Initiative „Hoffnungsschimmer“ machen sich ein Bild von Camps, in denen Menschen aus dem Nordirak und Syrien Schutz suchen.

Dietrich Harhues

Awan hat ein gebrochenes Herz, aber einen starken Rücken. Sie steht gerade, hält ein Schulheft mit arabischer Schrift in der Hand. Die 13-Jährige trägt ein Gedicht vor, das sie selbst verfasst hat. Wie um ihre Seele zu befreien, schreit das Mädchen aus Shingal den Refrain in den scharfen ostanatolischen Wind: „Wann hören die Morde auf? Oh, Dunkelheit, wann wirst du vorübergehen, oh Schicksal, was hast du für uns vor?“ Auf Applaus und stille Tränen der Besucher aus dem Münsterland haucht das Kind einer Flüchtlingsfamilie ein leises „Thank you“ in die Gasse zwischen grauen Zelten in dem Dörfchen Korex nahe Batman.

Dort liegt eines der Flüchtlingslager, das die Vertreter der Hilfsinitiative „Hoffnungsschimmer“ besucht haben. Von Sonntag bis Donnerstag bereisten sie den Südosten der Türkei. Eine doppelte Mission: Die zehnköpfige Delegation aus Senden, Bösensell, Nottuln und Münster wollte sich ein Bild von der Lage in den Camps machen – und die eigene Unterstützung organisieren.

Für den Brückenschlag der wohl einmaligen Allianz in Deutschland wurde in Diyarbakir ein geeigneter Partner gefunden: die Union der Städte und Gemeinden in Südost-Anatolien (GABB). Das Regionalbündnis springt in die Bresche, weil sich der türkische Staat um die kurdischen Flüchtlinge wenig schert. Die Millionen der EU jedenfalls erreichten die Menschen nicht, die vom blutigen Terror der ISIS im Nordirak und in Syrien vertrieben worden sind – „Flüchtlinge zweiter Klasse“, wie die Koordinatoren der kommunalen kurdischen Flüchtlingshilfe geltend machen. Die Solidarität überwindet die religiösen Grenzen innerhalb dieser Volksgruppe, zu der Moslems ebenso gehören wie Eziden oder weitere religiöse Minderheiten. Die Gemeinden, die selbst kaum finanziell über die Runden kommen, sowie die Bevölkerung stehen den Vertriebenen zur Seite.

Rund 220 000 Flüchtlinge zählt die Union (GABB) in ihren Camps, seit ISIS im August das Shingal-Gebiet überfallen hat. Die Standards in den Lager schwanken – selbst die bloße Ernährung der Opfer des islamistischen Terrors stellt einige Städte vor Probleme.

Weshalb „Hoffnungsschimmer“ zur Akuthilfe der Bitte der kurdischen Regional-Union gefolgt ist – und Lebensmittel sowie Hygienebedarf gekauft hat. 43 000 Euro waren als Spenden an die Flüchtlingshilfe mit Sitz in Senden geflossen – eine erstaunliche Summe, zumal das Sammeln erst zum ersten Advent begonnen hatte.

Viele Einzelspenden zeigen, dass sich die Bürger in Senden mit dem Projekt identifizieren, lautet das Resümee des Bündnisses, zu dem sich die evangelische und katholische Kirchengemeinde, die politische Gemeinde Senden, der Bundestagsabgeordnete Karl Schiewerling sowie der deutsch-kurdische Freundeskreis (DKFK) und die Gesellschaft ezidischer Akademiker (GEA) unter der Schirmherrschaft von Dr. Jochen Reidegeld, stellvertretender Generalvikar des Bistums Münster, zusammengeschlossen haben.

Sie möchten „den Flüchtlingen eine Stimme geben und die Not der Menschen lindern“. Von der Solidarität innerhalb der Kurden „sind wir sehr beeindruckt“, lautet das Fazit von Reidegeld. Er verbucht als besonderen Erfolg der ersten „Auslands-Mission“, dass mit dem kommunalen Regionalverband (GABB) „ein Partner gefunden wurde, dem wir vertrauen können“.

Doch die gemeinsamen Aufgaben bleiben gewaltig: Um nachhaltige Wirkung zu erreichen, soll in einem Flüchtlingslager eine Schule errichtet werden. „Wir wollen eine verlorene Generation verhindern.“ Angebote, um die viele Freizeit zu füllen, stehen ebenso auf der Wunschliste wie das Riesen-Thema der Trauma-Bewältigung. Denn der erste Eindruck, dass Kinder zwischen der Tristesse toben, täuscht zu leicht darüber weg, wie ihre Seelen geschunden worden sind.

Das betont auch Ali, ein 38-jähriger Mediengestalter, der von Neuss nach Batman gezogen war und seit dem Sommer im Camp in Korex Menschen begleitet, die Heimat, Besitz und Familienmitglieder verloren haben. Auch die Familie von Awans Großeltern wurde vom Leid des Terrors heimgesucht: Von zwei Söhnen und ihren Frauen fehlt jedes Lebenszeichen. Die Männer könnten getötet, die Mütter als Sklavinnen verkauft worden sein. Die zweijährige Enkelin Angelina wächst als Vollwaise auf. Buchstäblich getragen von den Armen und der Liebe der Großmutter, die selbst Kinder verloren hat.

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