Zuhause beim „lieben Töchterchen“
92-Jährige ist aus Kiew nach Nottuln geflüchtet
Nottuln
Sie ist geistig fit und sogar zu Scherzen aufgelegt – trotz ihres Alters und dem, was sie erlebt hat. Die 92-jährige, ehemalige Stadtführerin Margareta Danilowa ist vor dem Krieg in der Ukraine geflohen und lebt nun bei ihrer Bekannten Hedwig Schöneberg in Nottuln.
Zwei Herzinfarkte plus Bypass-Operationen und einen Oberschenkelhalsbruch hat Margareta Danilowa in den letzten Jahren gut bewältigt. Vor vier Wochen aber musste sie innerhalb von 20 Minuten alles zusammenpacken, um sich für einen abenteuerlichen Fluchtmarathon von Kiew nach Deutschland startklar zu machen.
Mehrere Tage war sie, zum Teil „im abgedunkelten Zug nachts unterwegs“, musste am Bahnhof übernachten, reiste nach Warschau zu ihrem Enkel, um von dort mittels freundschaftlich Verbündeter mit dem Pkw nach Berlin und dann nach Nottuln zu gelangen. Möglich machten es nicht zuletzt private Kontakte, die die Senioren aus Kiew schon vor Jahrzehnten zu Ehrenamtlichen entwickelt hatte, die seinerzeit für „Hilfe für Narowlja/Tschernobyl“ aktiv waren.
Wegen des forschen Tempos als Stadtführerin in Erinnerung geblieben
Auch, wenn der Verein mittlerweile nicht mehr existiert, dürfte die 92-Jährige einigen Mitgliedern noch sehr gut bekannt sein. Vor etwa 15 Jahren begleitete sie als versierte Deutsch sprechende Stadtführerin eine Reisegruppe aus Nottuln durch die ukrainische Hauptstadt. Sie blieb deshalb in nachhaltiger Erinnerung, weil sie – damals auch schon im Seniorenalter – ein beeindruckendes, forsches Tempo an den Tag legte, das ihre Gäste sehr forderte.
Ihre Gastgeberin nennt sie „liebes Töchterchen“
„Ich werde Ende des Monats ja auch erst 39“, nutzt die humorvolle Seniorin gerne diesen Zahlendreher. Bei Hedwig Schöneberg fühlt sie sich sehr wohl. Und dabei gibt es vor allem ein Wort, das sie immer wieder gerne wiederholt: „Dankeschön!“. Dazu hat sie auch schon einige Zeilen zu Papier gebracht, die für die große Öffentlichkeit gedacht sind. Ihre Gastgeberin nennt sie vertraut „mein liebes Töchterchen“ und die amüsiert sich darüber bestens, denn „das hat schon ewig lange keiner mehr zu mir gesagt.“
Ukrainerin hat eine bewegte Lebensgeschichte
Ihre ersten 23 Jahre verbrachte Margareta Danilowa in Jaroslawl, etwa 300 Kilometer von Russland entfernt. Wenn sie zu erzählen beginnt, wird schnell deutlich, dass ihre Lebensgeschichte ein dickes Buch füllen würde. „Bei der Einschulung haben sie uns erzählt, dass wir die glücklichsten Kinder der Welt sind, weil wir Schulbildung genießen durften, während die Kinder im Westen arbeiten mussten und im Müll nach Essbarem suchten“, schildert sie die Propaganda des Stalin-Regimes, dem auch ihr Vater als politisch Gefangener zum Opfer fiel. „Sie haben uns so belogen!“ Zu Putin befragt, winkt sie ab, schüttelt den Kopf und hält sich die Hände vor das Gesicht.
Als junges Mädchen studierte Margareta Danilowa Philologie und Literatur und war kurz davor, ihren Doktor in dieser Wissenschaft zu machen. Der Beruf ihres Mannes – er war Hauptdirigent im Militärorchester – sorgte indes dafür, dass sie mit der Familie oft umzogen.
Durch den Krieg von der Tochter getrennt
Elf Jahre lebten sie in Sewastopol auf der Krim, einige Zeit in Nowosibirsk, der größten Stadt Sibiriens, in Lettlands Hauptstadt Riga und in Wünsdorf im Land Brandenburg. Seit 1978 lebt Margareta Danilowa nun in Kiew. Seit 2000 alleine, da in diesem Jahr ihr Mann verstarb. Ihre Tochter lebte in Kiew auf der anderen Seite vom Dnepr. Zerschossene Brücken und Gefechte machten es im Februar unmöglich, sich zu erreichen.
Die Tochter machte sich zunächst allein auf den Weg in den Westen. Sie lebt heute in Hamburg. Ihr Schwiegersohn organisierte ihr den Transfer zum Kiewer Bahnhof, der „wegen Straßensperren und Gefechten dreimal solange dauerte wie normal“.
Als Dirigenten-Gattin trumpft Margareta Danilowa bei Hedwig Schöneberg gerne mit ihrem Wissen im Opern-Quiz auf. Oder die zwei Damen haben Spaß an ihrer Modenschau. Täglich kommen Kleiderspenden ins Haus, und als Schneiderin weiß Hedwig Schöneberg diese für ihre Mitbewohnerin passgenau zu ändern. „Ich trinke so gerne Wodka“, flachst Margareta Danilowa verschmitzt und stößt mit einem Glas Mineralwasser an. Etwas, das klingt wie „Budimo“, sagt sie. Das ukrainische Pendant zum russischen „Sa sdorowje (für die Gesundheit)“. Aber das ist dann wieder ein neues Kapitel . . .
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