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Prof. Dr. Dirk Nüsken stellt Kinderschutz-Gutachten vor

Die „Herzkammer der Jugendhilfe“

Ahlen

Wie müssen Jugendämter ausgestattet sein, um hundertprozentig arbeiten zu können? „115-prozentig“, weiß der Wissenschaftler Prof. Dr. Dirk Nüsken.

Von und

Vorschläge für effektiven Kinderschutz stellte Prof. Dr. Dirk Nüsken (l.) Marina Bänke, Olga Weckerle und Dr. Alexander Berger im Rathaus vor – wertvolle Impulse für die Arbeit für Kinder und Jugendliche erhofft sich der Bürgermeister. Foto: Stadt Ahlen

Der Kinderschutz gehört zu den Kernaufgaben eines Jugendamts, und hinter jedem Sachverhalt steckt ein echtes Schicksal. In den vergangenen Jahren hat er an Bedeutung erheblich zugenommen. Fälle sexueller Gewalt an Kindern, wie sie in Münster oder Lügde geschehen sind, haben die Öffentlichkeit bewegt und Interesse an der Arbeit der Jugendämter von Städten und Kreisen geweckt.

Auf Einladung von Bürgermeister Dr. Alexander Berger stellte jetzt einer der angesehensten Experten für Kinderschutz in Nordrhein-Westfalen im Rathaus ein Gutachten vor. Der aus Ahlen stammende Wissenschaftler Prof. Dr. Dirk Nüsken verfasste es für die Kinderschutzkommission des Landtags. „Ich verspreche mir davon wertvolle Impulse für unsere Arbeit“, so Alexander Berger, der sich zusammen mit Gruppenleiterin Marina Bänke und der Leiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD), Olga Weckerle, informieren ließ.

14 Beschäftigte im Allgemeinen Sozialen Dienst

Die Stadt Ahlen ist im Kreis Warendorf eine von vier Kommunen mit eigenem Jugendamt. Im ASD kümmern sich 14 Beschäftigte darum, dass das Aufwachsen von Kindern frei von Gewalt gelingt. Auch vor dem Hintergrund der Erkenntnisse des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Kinderschutzfall in Lügde hat die Kinderschutzkommission des Landtags Ende 2020 ein Gutachten zu Organisation, Struktur, Größe, Standards, Qualität, Fortbildung und Weiterbildung in NRW-Jugendämtern in Auftrag gegeben. „Der ASD ist die Herzkammer der Jugendhilfe“, so der Professor für Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Bochum. Die Mitarbeitenden benötigten insbesondere Spezialkompetenzen, um das Know-how eines Jugendamts auch bei Personalausfällen aufrechterhalten zu können.

Prof. Dr. Dirk Nüsken

„Ein gesunder Mix aus älteren und jüngeren Beschäftigten, aus Personal mit Migrationshintergrund und ohne ist enorm wichtig“, spricht sich Nüsken für Diversität in der Behörde aus. Sie sei Voraussetzung dafür, die verschiedenen Communitys und Milieus zu erreichen und zu verstehen. Professionelle, institutionelle Strukturen und Netzwerke seien unerlässlich für jedes Jugendamt. „Wenn beispielsweise ein Vollstreckungsbeamter in eine vermüllte Wohnung kommt und Hinweise auf dort lebende Kinder erhält, muss nach einer festen Regel Meldung an das Jugendamt erfolgen“, nennt Nüsken ein scheinbar selbstverständliches praktisches Beispiel, das aber noch lange nicht überall die Norm zu sein scheint. Seine Untersuchung unterschiedlich großer Jugendämter in NRW habe teils überraschende Verhältnisse offengelegt. So wenden die für den Kinderschutz zuständigen Ämter im Schnitt ein Drittel des Budgets für Weiterbildung auf, das im Groß- und Einzelhandel üblich sei. „Das ist viel zu wenig angesichts der Bedeutung, die das Thema einnimmt. Dabei geht es um Leben und Tod.“

Personalfluktuation und Fachkräftemangel

Eine weitere zentrale Herausforderung ergebe sich aus Personalfluktuation und Fachkräftemangel. „Freie Träger sind eher in der Lage, studentische Praktikanten zu bezahlen und damit junge Leute anzuwerben“, legt Nüsken den Finger in die finanzielle Wunde. Nicht ausreichend sei seiner Überzeugung nach eine bloße Soll-Besetzung im Allgemeinen Sozialen Dienst. Dirk Nüsken spricht sich dafür aus, der Empfehlung der Landesjugendämter für eine 115-prozentige Besetzung zu folgen. „Nur dann ist gewährleistet, dass bei Ausfällen oder übermäßigen Belastungen das Team tatsächlich zu 100 Prozent einsatzfähig ist.“ Dirk Nüsken schlägt auch die Schaffung von Kinderschutzbedarfsplänen vor, ähnlich wie man sie für die Ausstattung von Kindertagesstätten und Feuerwehren kenne. „Sie würden helfen, rechtzeitig Notwendigkeiten im Kinder- und Jugendschutz zu erkennen, die Leistungsfähigkeit zu dokumentieren und transparent Bedarfe für den folgenden Berichtszeitraum abzuleiten.“

Olga Weckerle

Aus dem Ahlener Rathaus kommt jede Unterstützung für diesen Vorschlag, der Gegenstand der Beratungen für ein Landeskinderschutzgesetz ist. „Die Fälle werden komplexer, die Anforderungen steigen“, bestätigt ASD-Chefin Weckerle ihre Erfahrungen aus der Praxis. Ein gesetzlicher Rahmen, der notwendige Standards absichert, sei sehr zu begrüßen.

Für Marina Bänke wirft das Gutachten die richtigen Fragestellungen auf: „Von vielen der hierin gemachten Vorschläge sprechen wir schon lange.“ Die zurückliegenden Monate seien genutzt worden, den ASD in diesem Sinne grundlegend neu zu organisieren.

Für eine weitere Kooperation mit dem Bochumer Wissenschaftler ist Ahlens Bürgermeister offen und will diese mit den politischen Gremien beraten. „Die äußerst praxisrelevanten Forschungen von Professor Nüsken würden uns ganz sicher darin unterstützen, noch bessere Strukturen im Kinderschutz und bei den frühen Hilfen aufzubauen und auf Dauer zu sichern.“ Am Ende müsse für jeden Fall gelten: Wir haben alles getan.

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