Sozialwissenschaftliche Studie zum Thema Missbrauch
„Systemisches Problem“: deutlich mehr Fälle sexueller Gewalt im Bistum Essen
Essen/Münster
Im Bistum Essen hat es seit der Gründung 1958 mindestens 423 Fälle und Verdachtsfälle von sexualisierter Gewalt und 201 Beschuldigte gegeben. Eine neue Studie beleuchtet das Versagen der Kirchenleitung und die Frage, welche Folgen Taten in den Pfarrgemeinden nach sich zogen.
Vertuscht, kleingeredet, versetzt: Auch im 1958 gegründeten Bistum Essen war dies früher bei der Kirchenleitung und ihrem Umgang mit Missbrauchstätern gängige Praxis.
„Wir wissen, Missbrauch ist nicht ein persönliches Problem der Täter, sondern ein systemisches Problem!“, unterstrich Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck die Erkenntnisse einer am Dienstag präsentierten sozialwissenschaftlichen Studie.
Nach Zahlen, die das Ruhrbistum aktuell vorlegte, gab es nach jetzigem Stand mindestens 423 Fälle und Verdachtsfälle. 201 Personen wurden beschuldigt, darunter 129 Geistliche und 19 Ordensfrauen. 2018 war noch von 60 beschuldigten Geistlichen sowie 85 Betroffenen die Rede. Helga Dill, Mitarbeiterin des Münchner Instituts für Praxisforschung und Projektberatung, führte die zuletzt gestiegenen Zahlen auf weitere Meldungen zurück. Dabei ging es häufig um Heimerziehung und um Vorwürfe gegen Laien.
Hartes Durchgreifen als Ausdruck von Schuldgefühl
Dill und Malte Täubrich (Forschungsinstitut Dissens, Berlin) erläuterten, dass das Ruhrbistum bis 2010, als Fälle an einem Berliner Jesuitenkolleg die Lawine ins Rollen brachten, unzureichend oder gar nicht auf Verdachtsfälle reagiert habe. Täter wurden versetzt, Gemeinden blieben uninformiert, Betroffene kamen kaum in den Blick. Nach 2010 sei dann ein „hartes Durchgreifen“ gegenüber den mittlerweile betagten Tätern zu erkennen. Dies werteten die Experten als Ausdruck eines „institutionellen Schuldgefühls“. Ein schlüssiges Konzept für den Umgang mit straffälligen Klerikern fehle aber weiterhin.
Anhand von sechs Fällen mit 68 Interviews legten die Experten auch die Dynamik in den Pfarreien offen. Dort wurde häufig eine Spirale aus Verschweigen, Bagatellisierung, Spaltung oder sogar auch Solidarisierung mit dem Täter in Gang gesetzt.
Mittlerweile habe das Bistum bei Prävention und Personalmanagement Konsequenzen gezogen, erläuterte Abteilungsleiterin Christiane Gerard. Noch in diesem Jahr soll es zudem verlässliche Regeln geben, wie das Bistum Therapiekosten übernehmen und „unbürokratische Hilfen“ leisten könne, ergänzte Bischof Overbeck, der 2009 Nachfolger des nach Münster berufenen Bischofs Felix Genn wurde.
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