Muskeldystrophie
Das große Trotzdem
Münster
Mit Philipp Waterkamps Muskeln ist es wie mit Eiswürfeln, „die bei einem halben Grad schmelzen“. Der 31-Jährige lebt nämlich mit einer Krankheit, die seine Muskulatur schwächt. Deswegen muss er nachts beatmet werden. Trotzdem lebt er sehr unabhängig.
Mit Philipp Waterkamps Muskeln ist es wie mit Eiswürfeln, „die bei einem halben Grad schmelzen“, sagt er. Keiner sieht, wie sie verschwinden. Aber nach einer Woche sind sie nicht mehr da. Der 31-Jährige lebt mit einer Krankheit, die seine Muskulatur schwächt: Muskeldystrophie Typ FSHD. Deswegen muss er nachts beatmet werden. Früher hätte das bedeutet, dass er in einem Heim oder einem Krankenhaus leben muss. Doch der Münsteraner nicht. Er lebt in seinen eigenen vier Wänden. So unabhängig, wie es nur geht.
Die 50 Quadratmeter, in denen er lebt, sind an seinen Rollstuhl angepasst. Zwischen der Küche, dem Schreibtisch und der Tür zum Balkon ist Platz genug fürs Rangieren, auf dem Boden liegt helles Vinyl, der Tisch ist auf einer Seite aufgehängt, damit kein Tischbein den Weg für den Rolli blockiert. Im Schlafzimmer nebenan steht ein Minikran, mit dem Philipp Waterkamps Assistenten ihn ins Bett heben. Da bleibt das Beatmungsgerät auf dem Nachtschränkchen, groß wie ein Schuhkarton, fast unbeachtet. Dabei hält es den 31-Jährigen am Leben und schenkt ihm die Freiheit, die ihm so wichtig ist. Gäbe es die Möglichkeit nicht, Patienten zu Hause zu beatmen, müssten sie den Rest ihres Lebens in einem Heim oder Krankenhaus verbringen.
Seine Krankheit führt dazu, dass seine Muskeln immer schwächer werden. Deswegen kann er nicht laufen, er zeigt fast keine Mimik, weil die Muskeln im Gesicht kaum noch arbeiten. Würde er ohne Maske einschlafen, reicht sein Zwerchfell nicht aus, um Sauerstoff ein- und Kohlendioxid abzuatmen. „Solange er wach ist, hilft ihm seine Atemhilfsmuskulatur“, erklärt sein Arzt Dr. Matthias Boentert von der Uniklinik Münster. Doch im Schlaf entspannen sich zum Beispiel Schultergürtel und Halsmuskeln. Im Traum- oder REM-Schlaf blockt das Gehirn alle Signale zu den Muskeln ab, „damit wir das, was wir träumen, nicht auch noch machen“, erklärt Boentert. Sonst würden alle, die vom Rennen träumen, wild mit den Beinen um sich treten.
Ursachen für den Sauerstoffmangel
Damit Schlafende trotzdem atmen, macht das Gehirn mit dem Zwerchfell eine Ausnahme. Der Muskel ist dann mehr oder weniger allein dafür zuständig, dass der Körper genug Sauerstoff bekommt und vor allem Kohlendioxid wieder ausgeatmet wird. Bei einer Krankheit wie der Muskeldystrophie reicht die Kraft des Zwerchfells dafür irgendwann nicht mehr aus. Der Patient braucht Unterstützung. Der Münsteraner kann sich noch an die Zeiten bis vor 14 Jahren erinnern, als er nicht beatmet wurde. „Da habe ich oft zehn Stunden geschlafen und bin trotzdem mit Kopfschmerzen aufgewacht“, erzählt er. „Schlafen und Masketragen gehören notwendigerweise zusammen,“ sagt Boentert. Sonst hätten Patienten wie Waterkamp anstrengende Nächte. Sie wären irgendwann so müde und erschöpft, dass sie in eine sogenannte Kohlendioxid-Narkose geraten würden und daran sterben müssten.
Dagegen muss Waterkamp nur noch zwei Mal im Jahr ins Krankenhaus. Dann wird er in die Klinik für Innere Medizin des UKM-MHS nach Steinfurt gebracht, wo Patienten mit ausgewählten neurologischen Symptomen und Krankheitsbildern behandelt werden. Etwa 350 Patienten mit ähnlichen Erkrankungen kommen dort hin, die alle mit Atemmuskelschwächen zu tun haben. „Viele unserer Patienten leider an einer amyotrophen Lateralsklerose (ALS)“, berichtet Boentert. Im Schlaflabor dort testen die Fachleute die Zahl der Atemzüge und die Menge des eingeatmeten Sauerstoffs sowie vor allem des ausgeatmeten Kohlendioxids, um die Notwendigkeit einer Heimbeatmung festzustellen oder um ein vorhandenes Beatmungsgerät entsprechend nachjustieren zu können. „Ich bin immer wieder beeindruckt, wie viele Patienten ihre Krankheit meistern und ihr ein großes Trotzdem entgegensetzen,“ sagt der Arzt.
Allein kann sein Patient das nicht bewältigen. 14 Stunden am Tag hat er Assistenten an der Seite, die ihn immer dann unterstützen, wenn die Kraft in seinen Händen, Armen oder Beinen nicht mehr reicht. Sie helfen ihm zu essen, sich umzuziehen, die Beatmungsmaske richtig aufzusetzen, wenn sie nachjustiert werden muss. Sollte es nach Schichtende ernsthaftere Probleme bei der Beatmung geben, wäre in zehn Minuten ein Bereitschaftsdienst in seiner Nähe.
Verlauf der Muskelkrankheit
Boentert schätzt, dass weltweit im Schnitt 30 bis 40 Patienten mit Muskeldystrophien auf 100 000 Einwohner kommen. Die Krankheit hat viele verschiedene genetische Ursachen, durch die sich die einzelnen Krankheitsbilder unterscheiden, wie die Krankheit vererbt wird, wann sie beginnt, welche Muskelgruppen besonders betroffen sind, wie schnell die Krankheit fortschreitet und welche anderen Organe beteiligt sind etwa.
Waterkamp kam schon mit der Krankheit auf die Welt. Sie wird genetisch übertragen. Er fing erst mit drei Jahren an zu sprechen, hörte schlecht. Laut Boentert kann das bei der Variante der Krankheit, mit der der Münsteraner lebt, ein Indiz sein. Ihre Folgen seien komplex, die Probleme mit Augen und Ohren könnten erste Anzeichen für die Krankheit sein. Spätestens wenn zusätzlich die Arme ungewöhnlich dünn sind und die Schulterblätter vorstehen, „sollte es beim Kinderarzt klingeln“, er also eine Muskeldystrophie als mögliche Ursache erkennen. Als Waterkamp vier oder fünf war, fielen den Eltern zum ersten Mal Lähmungen im Gesicht auf, als er neun war, stellten die Ärzte in der Kinderneurologie der Uniklinik Münster als erste die Diagnose. Da hatten seine Mitschüler ihn schon regelmäßig gehänselt. Er sprach damals schon so, als ob er Watte im Mund hätte. Weil er keinen Sport machen konnte, half er lieber seinen Eltern im Garten oder baute Modelle. „Ich habe mir immer das gesucht, was ich gut kann.“ Mit 15 oder 16 wurde ihm klar, dass er immer weniger gehen konnte, ließ das Radfahren sein, blieb immer mehr zu Hause. Mit 19 merkte er, dass seine Fingermotorik für sein Hobby nicht mehr ausreichte. „Ich musste mein Leben schon öfter umkrempeln“, sagt er. „Da musste ich mich neu erfinden.“ Als die anderen Jugendlichen in Laer sich Gedanken übers Studium, die Ausbildung, ihre erste Beziehung oder eine WG machten, beschäftigte er sich mit der Frage, wie er von einem Ort zum nächsten kommen soll und setzte durch, dass er endlich einen Elektrorollstuhl bekommt.
„Die zwei Jahre vor dem Rollstuhl waren die Zeit, in der ich am wenigsten konnte“, sagt er heute. Damals hat er gelernt, dass er sich, seinen Körper und sein Leben am besten kennt und am besten weiß, wann er welche Hilfe braucht. „Ich wusste damals schon, dass mir ein Rollstuhl mit Joystick die größte Freiheit geben würde.“
Waterkamps Trotz
Die Jahre vorher ging Philipp Waterkamp in den Kindergarten sowie die Grundschule vor Ort, später zur Hauptschule im Nachbarort, wechselte zur höheren Handelsschule, machte sein Fach-Abi und seine Ausbildung zum Industriekaufmann bei der Westfalen AG. Dort war er von 2009 bis 2014 beschäftigt, bis der Vertrag nicht verlängert und er arbeitslos wurde. Als ihm dann das Jobcenter vorschlug, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu arbeiten, stellte er einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente. Weil seine Muskeldystrophie ihn zwar körperlich eingeschränkt, er aber geistig voller Kraft und Ideen ist, engagiert er sich ehrenamtlich für die Deutsche Multiple Sklerose-Gesellschaft, übernimmt Verwaltungsarbeit und stellt Spendenbescheinigungen aus. Zusätzlich ist er engagiert im „Kundenbeirat“ des Ambulante Dienste e. V., einem Pflege- und Assistenzverein, für den er Protokolle schreibt. Das ist mühsam, hilft ihm aber, seine Fähigkeiten auch sinnvoll zu nutzen. Oder er sitzt am Rechner und spielt Fahrzeugsimulationsspiele.
Waterkamp hat eine sehr genaue Vorstellung davon, „dass ich in zehn Jahren nicht mehr kann, was ich jetzt noch schaffe“. Er weiß nicht, welche Fortschritte die Forschung in der Zeit macht. Er hofft auf Medikamente, die den Muskelabbau stoppen sollen. Und bis dahin schmilzt der Eiswürfel. Und schmilzt und schmilzt.
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