Palmetshofers „Vor Sonnenaufgang“
Aus alten Freunden werden Gegner
Recklinghausen
Für Thomas Hoffmann scheint es gut zu laufen: Er hat in eine reiche Familie eingeheiratet, wartet darauf, dass Ehefrau Martha ihr Kind zur Welt bringt, und ist eigentlich schon Familienoberhaupt, weil Schwiegervater Krause doch nur trinkt und vom Morgen-Schiss erzählt. Ein unerwarteter Besuch seines Studienfreundes Alfred Loth jedoch führt zu heftigen Irritationen: Der hängt nach wie vor den alten linken Idealen nach und wettert gegen seinen nach rechts gewendeten Ex-Kumpel, bevor er dann mit dessen kindlicher Schwägerin anbandelt.
Ewald Palmetshofer hat gründlich aufgeräumt mit den naturalistischen Bestandteilen des Gerhardt-Hauptmann-Stücks „Vor Sonnenaufgang“: So gibt es weder dienende Nebenfiguren noch rustikalen Dialekt. Der österreichische Dramatiker legt aber keineswegs nur eine modernisierte Strichfassung des ursprünglichen Dramas vor, dessen Sozial-Appelle an der Schwelle zum 20. Jahrhundert heute etwas „historisch“ anmuten: Seine Texte, mit denen das Skelett der alten Figuren neues Fleisch bekommt, haben eine dramatische Wucht, auf die sich ein starkes Ensemble mit Wonne stürzen kann.
Regisseurin Jette Steckel macht in der Deutschen Erstaufführung bei den Ruhrfestspielen (die Uraufführung fand in Basel statt) den Zusammenprall der männlichen Protagonisten zum ersten Höhepunkt. Alexander Simon als flammend argumentierender Loth steht am Rand der Scheibe, die sich zweieinhalb Stunden lang sachte dreht, während Felix Goeser als Hoffmann selbstherrlich in der Mitte tafelt. Und immer aggressiver wird, weil er nicht nur freundliche Motive beim Besuch des linken Journalisten wittert. „Da stehen wir jetzt, die Metapher und das Trüffelschwein“, bringt Loth ihren Gegensatz auf den Punkt.
Es ist ein bisschen schade, dass Jette Steckel ihre radikale Reduktion nicht bis zum Ende durchhält, sondern zu Mozart-Zitaten und plakativen Sounds greift, die das Drama überlagern. Dessen Kern ist nicht mehr, wie bei Hauptmann, die Klage über die Verhältnisse, sondern eher über Menschen wie Loth, deren Idealismus beim eigenen Nutzen endet. Interessant, dass Palmetshofer die Figur der Ehefrau Martha neu erschafft: Bei Hauptmann gibt es sie nur indirekt, hier hingegen kokettiert sie mit ihrer Depression und macht das schreckliche Ende der Totgeburt greifbarer. Die kleine Schwester Helene hingegen, von Loth erst geliebt und dann fallengelassen, darf weiterleben.
Diese Aneignungen des alten Stücks sind so stimmig und seine kunstvoll rhythmisierte Sprache ist so stark, dass der originale Hauptmann im Vergleich fast museal wirkt.
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Mit demselben Drama haben die 43. Mülheimer Theatertage begonnen: Palmetshofers „Vor Sonnenaufgang“ ging in der Uraufführungs-Inszenierung des Theaters Basel über die Bühne. Es war das erste Stück im Rennen um den Mülheimer Dramatikerpreis. Bis zum 2. Juni können Besucher sieben jüngst uraufgeführte Stücke sehen. Am Ende bestimmt eine Jury, welcher Autor den mit 15 000 Euro dotierten Preis erhält.
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