75 Jahre Augsburger Puppenkiste
Die Magie der Marionetten
Münsterland
Bei einer Insel mit zwei Bergen denkt manche oder mancher an die eigene Kindheit. Die Magie der Holzpuppen verzaubert bis heute Groß und Klein. Diesen Erfolg feiert die Augsburger Puppenkiste nun.
Es ist ein eher unauffälliges Haus, groß zwar, aber schlicht weiß gestrichen. Doch hinter den wenig markanten Mauern des einstigen Heilig-Geist-Spitals in Augsburg werden die Fäden gezogen, und das seit 75 Jahren. So lange schon ist in dem Bau die Augsburger Puppenkiste daheim - jenes berühmte Theater, in dem menschliche wie märchenhafte Holzfiguren durch das behände Bewegen von Bändern zum Leben erweckt werden.
Die Puppenkiste ist deutschlandweit und international bekannt, nicht zuletzt durch Kinofilme und Fernsehfassungen von Klassikern wie „Urmel aus dem Eis“ oder „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Nun feiert das Theater voller Kindheitserinnerungen 75-jähriges Jubiläum.
Die Puppenkiste hat Tradition
Die Tradition der Puppenkiste ist auf Walter Oehmichen zurückzuführen, der 1940 im Krieg als Soldat in einer Schule bei Calais einquartiert wurde und dort ein Puppentheater entdeckte. Er nahm es an sich, unterhielt damit seine Kameraden und machte das Hobby später in Augsburg zum Beruf. Oehmichen starb 1977.


Heute heißt der Mann, bei dem die Fäden zusammenlaufen, Klaus Marschall. Der 61-jährige Enkel von Oehmichen leitet den 44-Mitarbeiter-Betrieb Puppenkiste seit 1992 in dritter Generation. Zum Geburtstag der Kiste verrät Marschall: „Wir planen in unserem Museum eine große Jubiläumsausstellung mit all unseren Stars.“ Laufen soll sie vom 16. März bis zum Herbst.
Der Gestiefelte Kater, ein Pionier
Zu sehen sein wird dann auch jene Figur, mit der einst alles losging: der Gestiefelte Kater. Breite Bekanntheit erlangte das Theater aber erst durch ihren Sprung ins Fernsehen. Schon einen Monat nach dem Sendestart der ARD tauchte die Puppenkiste darin auf: am 21. Januar 1953 mit dem Märchen „Peter und der Wolf“. Ganze Generationen wuchsen sodann mit dem Lummerland-Ohrwurm „Eine Insel mit zwei Bergen“ auf und auch mit dem „Meer“ um dieses Eiland, das in Wahrheit Plastikfolie war.
Nach Zahlen des Theaters kamen im vergangenen Jahr 22 Prozent der Besucher aus Augsburg, 15 Prozent aus dem weiteren Umkreis und 14 Prozent aus dem restlichen Bayern - knapp die Hälfte reiste also von weiter her an.
Hat die Puppenkiste die Pandemie wirklich überstanden?
Dass das Publikum zurückkommt, war dabei keineswegs sicher. Lange musste das Theater wegen Corona geschlossen bleiben. Seit einem Jahr wird wieder durchgängig gespielt, doch der Knoten platzte erst Ende 2022, wie Marschall erzählt. „Als im November die erste Weihnachtsvorstellung ausverkauft war, ging es plötzlich ganz schnell“, erinnert er sich. „Wie wir die Pandemie wirklich überstanden haben, werden wir aber erst in ein oder zwei Jahren wissen.“
Der Live-Betrieb des Marionettentheaters genießt indes ungebrochenes Interesse: „Bis zum Ausbruch von Corona kamen jährlich etwa 90.000 Zuschauer zu unseren rund 420 Aufführungen, die dadurch zu 95 Prozent ausgelastet waren“, sagt Marschall. Inzwischen normalisiere sich der Andrang wieder. Das Programm richte sich nicht nur an Kinder; auch für Erwachsene gebe es Angebote. „Insgesamt haben wir seit unserem Bestehen mehr als 5,3 Millionen Besucher und 300 Inszenierungen gehabt.“ Hinzu kämen jährlich rund 70.000 Menschen ins Puppenmuseum „die Kiste“.
Kritik rund um Jim Knopf
Diese Zahlen sind beeindruckend – gleichwohl genügen sie nicht: „Ohne die öffentliche Hand wären wir nicht lebensfähig“, so Marschall. Eine gute halbe Million Euro brauche die Puppenkiste jährlich von der Stadt Augsburg und dem Freistaat Bayern. Mit diesem Geld will der Theaterchef in der Puppenkiste zwei Ziele erreichen - „gute Unterhaltung und den Abbau von Schwellenangst gegenüber dem Theater“. Dieser Ansatz mache sein Haus pädagogisch wertvoll.
Trotz des Erfolges kommt die Augsburger Puppenkiste nicht um kritische Stimmen herum. So auch nicht an der Pädagogin Christiane Kassama: „Jim Knopf reproduziert viele Klischees, zum angeblich typischen Wesen und Äußeren von Schwarzen“, erklärte sie in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“.
Die Puppen sind nicht mehr im TV zu sehen
Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, sowie das Urmel aus dem Eis - das sind (neben dem Kasperl) wohl die prominentesten Kerle aus dem Kisten-Kosmos. Längst jedoch haben sich die Augsburger Wunderwesen weitestgehend aus dem TV verabschiedet. Schon seit 1995 gibt es dafür keine jährlichen Produktionen mehr, die Programmverantwortlichen verloren das Interesse. 2011 warf auch der Kinderkanal die alten Folgen aus dem Programm - „nicht mehr zeitgemäß“. Der letzte Kinofilm lief 2018, ein neuer ist noch nicht in Produktion.
„Wir brauchen die Eltern, dass sie ihren Kindern den Zugang zum Figurentheater weiter ermöglichen“, wünscht sich Klaus Marschall für die Zukunft. Er selbst möchte die Puppenkiste irgendwann an seine eigenen Kinder übergeben, die bereits mitarbeiten. Deshalb freut er sich umso mehr über das Aufsehen bei TikTok.
Puppenkiste neu erfunden: Erfolg auf TikTok
Auf der Videoplattform veröffentlicht Schauspieler Tom Böttcher seit Oktober 2022 Videos im Stil der Augsburger Puppenkiste. Seine Follower können ihm beim Kaffee machen, Spazierengehen, Backen oder im Fitnessstudio als „Gym Knopf“ zusehen. Besonders begeistert sind die Leute davon, wie authentisch Böttcher die Bewegungen und den Gesichtsausdruck einer Marionette imitieren kann. Das Video, in dem der Hamburger sich wie eine Marionette bewegt, hat auf TikTok und Instagram zusammen mehr als sechs Millionen Aufrufe. So konnte sich der TikTok-er über eine Einladung nach Augsburg freuen.
Viele Follower loben seine Schauspielkunst, aber bei einigen schwingen auch glückliche Kindheitserinnerungen mit. Er selbst habe am liebsten „Schlupp vom grünen Stern“ geschaut, erzählt er. „Sehgewohnheiten ändern sich immer, aber das Stilmittel von Puppentheater hat hunderte Jahre lang funktioniert und bleibt interessant.“ Es biete eine erfrischende Abwechslung zum überall verbreiteten Hyperrealismus. „Man kann sich verzaubern lassen, dazu verführen lassen, eine Geschichte anzunehmen, obwohl die Mittel offen zugänglich sind.“
„Rapunzel“ feiert demnächst Premiere
Dass 75 Jahre nach der Gründung der Puppenkiste immer noch junge Menschen begeistert vom Marionettentheater sind, überrascht den Leiter des Theaters nicht. Die Vorstellungen in Augsburg seien bereits bis Mai fast ausgebucht. Bei einer Kapazität des Theaters von 220 Personen und 26 Vorstellungen haben sich allein im Januar mehr als 5.500 Gäste von den Geschichten für Groß und Klein verzaubern lassen. Am Jubiläumstag, dem 26. Februar, feiert „Rapunzel“ Premiere.
Das Puppentheater hält Marschall jedenfalls für ein zukunftsträchtiges Konzept. „Wir sind nach wie vor der Ansicht, dass die Erzählgeschwindigkeit gerade für Kinder auch die richtige ist“, sagt er. Die Magie liegt für den Theaterleiter gerade im Offensichtlichen: „Wir bieten ein unfertiges Bild an, das die Zuschauer vervollständigen müssen. Das regt die Fantasie an.“
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