„Der Sommer mit Anaïs”
Sie kann sich nicht entscheiden
Nicht mehr jugendlich, aber vom Gefühl her noch längst nicht erwachsen: So präsentiert sich die Titelfigur dieser französischen Liebeskomödie der oberen Güteklasse. Als Stadtneurotikerin irrlichtert Langzeitstudentin Anaïs zwischen romantischen und beruflichen Optionen umher – bis ausgerechnet die Frau eines ihrer Liebhaber Umkehr verspricht.
Anaïs ist 30 und kann sich nicht entscheiden: dieser oder jener Lover? Dieser oder jener Job? Mit dem Studium ist sie noch nicht fertig, aber auch auf alle anderen Aspekte des Lebens kann sie sich nicht wirklich festlegen. Das FOMO-Gefühl („fear of missing out“: die Angst, etwas zu verpassen), die Geißel unseres Instagram-Zeitalters, trifft bei ihr auf eine vorgezogene Torschlusspanik.
Wohl kaum jemand könnte die Sprunghaftigkeit dieser französischen Schwester im Geiste von Julie aus dem norwegischen Programmkinohit „Der schlimmste Mensch der Welt“ so trefflich verkörpern wie die vornamensgleiche Anaïs Demoustier, die schon so manch französischen Film der letzten Jahre veredelte (etwa „Alice oder Die Bescheidenheit“). Mit unnachahmlicher Hochbetriebsamkeit und immer auf dem Sprung spielt sie die Titelfigur, die das Wohlwollen gutmeinender Mitmenschen stets aufs Neue pulverisiert, die ihre Miete nicht bezahlen kann und von einem Partner zum nächsten springt. Doch auch der wesentlich ältere Verleger Daniel (Denis Podalydès) interessiert sie nur kurz. Nächster Halt: Emilie. Der Ehefrau Daniels, mit verlässlicher Noblesse gespielt von Valeria Bruni Tedeschi („Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr“), reist sie zu einer Konferenz in der Bretagne hinterher, um sie so lange zu umschwirren, bis die Schriftstellerin der Anziehungskraft der ewigen Studentin nachgibt, zumindest zeitweilig.
Charline Bourgeois-Tacquet inszeniert die Sinn- und Sinnlichkeitssuche der volatilen Anaïs als herrlich neurotisches Dialogdauerfeuer, das mitunter wie die französische Version der frühen Filme von Noah Baumbach („Frances Ha“) daherkommt. Demoustier vermag es dabei mühelos, ihre Anaïs zugleich amüsant-enervierend und hochsympathisch zu zeichnen. Eine hohe Kunst! Sehenswert.
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