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Schüler beschäftigen sich mit dem Nationalsozialismus

Kofferpacken – wie einst Tommy

Münster

Dass die Klasse bei der Feierstunde zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus an diesem Freitag dabei sein darf, empfinden die Jugendlichen als Ehre. Die Klasse 8d ist über die Lektüre eines Jugendbuchs mit dem Thema Nationalsozialismus in Kontakt gekommen.

Von Doerthe Rayen

Die Achtklässler des Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasiums in Münster haben sich mit der Geschichte des kleinen Tommy beschäftigt. Sie haben gedanklich Koffer gepackt – wie die jüdische Familie 1941, bevor sie von den Nazis deportiert wurde. Foto: Rayen

Einen Koffer zu packen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht und wie lange sie dauert? Das ist schwer. Die Klasse 8d vom Annette-Gymnasium aus Münster hat Koffer gepackt – gedanklich. Darin landeten Plüschtiere, Fotos von Familie und Freunden. Ein Tagebuch. Die Lieblingskette. Viele schöne Dinge zum Erinnern, Festhalten und Bewahren.

Die Schülerinnen und Schüler haben mit ihren Lehrern – Klassenlehrerin Julia Götz, Geschichtslehrerin Sabrina Hamidi und Lehramtsanwärter Philipp Marstall – einen Projekttag erlebt. Sie haben nachgespürt, wie es Tommy und seinen Eltern Bedrich und Johanna Fritta im Jahr 1941 wohl ergangen sein könnte. Damals wurde die jüdische Familie von den Nationalsozialisten ins Ghetto nach Theresienstadt gebracht. Der kleine Tommy musste sein Zuhause in Prag verlassen. Nur einen Koffer durfte die Familie mitnehmen.

„Das muss ein bedrückendes Gefühl gewesen sein: Eine Reise ins Nichts“, vermutet Matilda.

Was nehme ich mit, wenn ich mein Zuhause für immer verlassen muss? Die Annette-Schüler haben einen Koffer mit Zetteln gefüllt. Foto: Rayen

Sie weiß um das Schicksal der Familie. Tommys Eltern haben die Nazi-Zeit nicht überlebt. Nur Tommy – und ein besonderes Bilderbuch. Tommys Vater war Künstler und hatte viele Bilder von seinem Sohn gemalt – in Theresienstadt, wo alles anders als zu Hause war.

Künstler Bedrich Fritta

Die Bildersammlung wollte Bedrich Fritta seinem Sohn zum dritten Geburtstag schenken. Dazu kam es aber nicht mehr. Der Vater wurde wegen dieser Bilder, die den Holocaust festhielten, von seiner Familie getrennt. Nicht nur das: Tommys Vater wurde nach Auschwitz ins Konzentrationslager deportiert und dort ermordet. Tommys Mutter starb in Theresienstadt – vermutlich aus großem Kummer und Schmerz. Zurück blieb ein kleiner Junge.

Die Schülerinnen und Schüler haben durch ihr Projekt viel über die Zeit der Nationalsozialisten erfahren. Sie wissen um das Leid der Familie Fritta, das stellvertretend für viele andere jüdische Familien steht.

Julian

Julian ist schockiert: „Wir dürfen nicht vergessen, was die Nazis getan haben.“ Paul und Linda finden, dass über diese Phase der deutschen Geschichte gesprochen werden muss. „Wir müssen uns damit beschäftigen“, sagen die beiden. Mariam denkt an die vielen Opfer. „Dass Menschen wegen ihrer Religion ausgegrenzt und umgebracht werden, darf nie wieder passieren.“

6.000.000 Menschen

Die Klasse war oft erschrocken von dem, was sie über die Nazis und ihre Herrschaft erfahren hat. Das Schicksal von Tommy stimmt sie traurig. Doch es gibt auch Tröstliches. Denn Tommy ist nicht allein geblieben. Sein Papa und dessen bester Freund Leo hatten sich versprochen: Wenn einem etwas passiert, kümmert sich der andere um die Familie. Nach dem Krieg hat Leo mit seiner Frau den kleinen Tommy adoptiert. Das Geschenk seines Vater hat Tommy erst viele Jahre später bekommen. Die Bildersammlung hatte Bedrich Fritta noch vor seiner Deportation versteckt. Sein bester Freund Leo wusste wo. Tommy hat das Bilderbuch zu seinem 18. Geburtstag bekommen.

Angefangen hat alles mit dem Buch „Wunder“

Dass die Klasse sich so intensiv mit der jüngeren Geschichte auseinandergesetzt hat, hat zunächst nicht im Geschichtsunterricht begonnen. Vor einem Jahr las die Klasse im Deutschunterricht das Jugendbuch „Wunder“ von R. J. Palacio. In der Geschichte wird die Hauptfigur August, der seit seiner Geburt Gesichtsanomalien hat, von einem Mitschüler schikaniert.

„Wir stellten uns die Frage, warum er das tut und wie man ihm begreiflich machen könnte, dass sein Verhalten diskriminierend ist“, erklärt Ronja. Die Schülerin war von dem Buch so gefesselt, dass sie Band 2 las - und ihren Mitschülern vorstellte. In Band 2 wird erklärt, dass Julians Großvater wegen körperlicher Behinderungen dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Schon wieder hatten die Jugendlichen viele Fragen. Deutschlehrerin Julia Götz holte die Geschichtslehrerin mit ins Boot.

Arolsen-Archiv: Jeder Name zählt

Die Klasse schaute mit ihr einen Film über Erna de Vries. Tauchte ein in Zahlen und Fakten zum Nationalsozialismus. Nicht nur das: Die Jugendlichen brachten sich für das sogenannte Arolsen-Archiv und die Initiative #everynamecounts ein. Das Archiv enthält die weltweit größte Sammlung von Karteikarten der Verfolgten des Nationalsozialismus. Diese sollen nun vor dem Verfall geschützt und digitalisiert werden. Dabei kann jedermann helfen.

#everynamecounts

Das heißt im Umkehrschluss, dass für die restlichen 24 Millionen jede Hilfe gebraucht wird.

Die Klasse 8d hat 600 Karteikarten digitalisiert. „Wir sind so stolz auf die Schülerinnen und Schüler“, zeigen sich Sabrina Hamidi und Julia Götz begeistert von dem Engagement. Ihr Anliegen war es, die Sinne der Jugendlichen zu schärfen: „Wir müssen wachsam sein, denn Rassismus und Antisemitismus sind leider Realität.“

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